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#1114656 - 19.03.15 22:50 Centroamérica en bicicleta
joeyyy
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abwesend abwesend
Beiträge: 999
Dauer:1 Monat, 20 Tage
Zeitraum:23.1.2015 bis 13.3.2015
Entfernung:3000 Kilometer
Bereiste Länder:bzBelize
crCosta Rica
svEl Salvador
gtGuatemala
hnHonduras
mxMexiko
niNikaragua
paPanama
Externe URL:http://www.gondermann.net





Donnerstag, 22.1.2015: Ärger mit der Freude und der Technik


Es ist Donnerstagabend, alles ist vorbereitet, die komplette Ausrüstung liegt bei mir auf dem Küchentisch. Ich kenne mich, normalerweise packe ich immer auf den letzten Drücker, und dann wird es stressig. Dieses Mal habe ich es mir anders vorgenommen.

Um sechs Uhr sind alle Ausrüstungsgegenstände in den Packtaschen verstaut, nichts liegt mehr auf dem Küchentisch, ich bin zufrieden und sehe einem ruhigen Abend mit endlich wachsender Vorfreude auf meine Reise entgegen.

Vorfreude? Na ja – Viel Arbeit in der Firma sowie eigene und vor allem fremde Bedenken haben doch an meiner Vorfreude gegraben. Jedesmal die gleichen Fragen: Was, Du willst durch die gefährlichsten Länder der Welt fahren? Hast Du keine Angst? Hast Du schon mal die Kriminalitätsstatistik gelesen? Willst Du nicht doch mit einer Gruppe reisen? Und so weiter. Ja, nein, ja, nein. Und so weiter.

Kaum jemand beneidet mich, kaum jemand freut sich mit mir. Ich bin ja schon froh, wenn ich gefragt werde: Wo liegt eigentlich Zentralamerika? Und wie der stete Tropfen den Stein höhlt, so höhlt die stete Skepsis die Vorfreude. Wenn ich gesagt hätte, hey, ich mache eine sechswöchige Kreuzfahrt in der Karibik, dann wäre das wohl anders gewesen. Dann wäre der Urlaubstraum des Deutschen angeregt und sein Neid das Futter für meine Vorfreude. Dabei wäre das sterbenslangweilig für mich und würde nach spätestens drei Wochen wahrscheinlich MICH zum unberechenbaren Kriminellen werden lassen.

Nee, ich bin stolzer Besitzer des Gens DRD4-7R, das den Weltumradler vom Gartenzaunanstreicher unterscheidet.

Bevor ich überlege, welche Sicherheitsvorkehrungen ich noch treffen muss, ist mir viel wichtiger, ob ich die 50-Millimeter-Reifen drauf lasse und damit mehr Gewicht, größere Pannensicherheit, aber auch mehr Komfort wähle oder ob ich die 40-Millimeter-Rennreifen nehme, die leichter sind und einen niedrigeren Laufwiderstand versprechen, dafür aber weniger komfortabel und pannenanfälliger sind. Ich entscheide mich für die dünneren – auch, weil dann mehr Platz zwischen Reifen und Schutzblechen ist und sich die Bleche somit nicht so schnell zusetzen, wenn ich mal in schlammiges Terrain geraten sollte.

Nach dem Reifenwechsel prüfe ich nochmal die Technik, ziehe an den Bremsen und merke, dass sich der Hebel für die Hinterradbremse bis zum Lenker durchziehen lässt. Die Bremsflüssigkeit an meinen Fingern lässt nichts Gutes erahnen.

Sh!t – am letzten Abend vor meiner Radreise ist die Hydraulik der Bremsanlage geplatzt. Und zwar am Bremshebel, dem HS66-Modell von Magura, das es schon lange nicht mehr zu kaufen gibt und somit auch nicht mehr mit Ersatzteilen versorgt wird. Dazu muss gesagt werden, dass ich mit einem Rennlenker und hydraulischen Felgenbremsen fahre. Für Rennräder gab es früher mal aufwändige Hydraulikbremsen von Magura, die sich aber nicht durchsetzten. Allerdings sind die Bremsgriffe dieser Systeme derzeit sehr gesucht, da viele Reiseradler die Ergonomie eines Rennlenkers schätzen, an diesen aber die handelsüblichen Bremsgriffe der normalen Reiseräder nicht passen. Also schrauben wir die Rennbremsgriffe an die Bremssysteme der Reiseräder und können so mit Rennlenkern fahren.

Das geht seit jetzt gerade bei mir nicht mehr. Ich muss morgen abend mit meinem Rad und Gepäck um fünf am Bahnsteig stehen. Und zwar mit funktionierender Hinterradbremse. Ich bin froh, dass Winter ist und mein Radhändler wohl momentan nicht allzuviel zu tun hat und hoffe darauf, dass die Werkstatt das dann schon hin bekommt.


Freitag, 23.1.2015: Von Hannover mit der Bahn eigentlich nach Bensheim, dann nach Weinheim, dann wieder nach Bensheim


Es ist zehn Uhr, ich fahre mit meinem defekten Rad zum Radhändler, habe bereits einen geraden Lenker, Griffe und einen Vorbau aus meinem Fundus im Rucksack, damit der von mir erwartete Umbau nicht allzu teuer wird.

In der Tat hat Kristine vom Räderwerk keine Ersatzteile der HS66-Griffe da und muss somit die komplette Lenk-/Bremseinheit umbauen.

Kristine hat jetzt den gleichen Adrenalinschub wie ich gestern abend, ist aber relativ schnell wieder ruhig und macht sich gleich an die Umbau-Arbeit.

Um zwei erhalte ich den erlösenden Anruf, dass das Rad umgebaut und reisefertig sei. Ich fahre mit der Straßenbahn zum Räderwerk und dann mit einem ungewohnten Fahrrad-Setup nach Hause.

Um fünf stehe ich wie geplant am Bahnsteig. Mit gepacktem Rad und endlich aufkommender Urlaubsstimmung.

Die Fahrt zu meiner Schwester nach Bensheim mit dem IC ist angenehm ruhig, ich entspanne mich, höre Musik und döse vor mich hin.

Nach Frankfurt kommt dann auch irgendwann kurz vor neun Uhr abends Bensheim, wo Schwester und Schwager bereits am Bahnhof stehen und auf mich warten. Der Zug hält, ich drücke den Knopf zum Öffnen der Tür, warte darauf, dass diese sich öffnet, was sie nicht tut. Ich drücke nochmal und nochmal und nochmal und das einzige was passiert, ist, dass der Zug anfährt. Andere Fahrgäste wollten auch aussteigen und rufen aufgeregt nach dem Schaffner. Dieser kommt und kann sich den Defekt nicht erklären. Ich könnte jetzt ja zu einer anderen Tür gehen, was aber mit dem vollgepackten Rad nicht möglich ist. Die nächsten Halte sind dann Weinheim und Heidelberg, ich rufe meine Schwester an, die mich schon gesehen hat und sich wunderte, warum ich nicht ausgestiegen bin. Wir verabreden uns für den Bahnhof Weinheim und hoffen, dass sich die Türen dann öffnen, was sie auch tun.

Bei meiner Schwester zuhause quatschen wir bei rheinhessischem Wein bis nachts gegen drei, wir haben uns schließlich lange nicht gesehen. Somit schläft sich’s auch gut. Was für ein Tag.


Samstag, 24.1.2015: Von Frankfurt in zwölf Stunden nach Cancun


Das Frühstück ist kurz und gut, die Fahrt zum Frankfurter Flughafen ohne besondere Vorkommnisse, die Verabschiedung von Schwester und Schwager herzlich mit bestem Dank und der Gang zum Schalter erstaunlich kurz.

Meinen mitgebrachten Radkarton stülpe ich über das Rad, verklebe ihn mit einer Rolle Packband, stecke die Gepäcktaschen, Zelt und Schlafsack in zwei Ikea-Tüten, die ich dann zu einem einzigen kostengünstigen Gepäckstück verzurre und gebe alles am Condor-Schalter auf. Ohne Probleme checke ich ein, quatsche noch mit einem sehr interessierten Schalter-Mitarbeiter, der bedauert, dass alle guten Plätze an den Notausgängen bereits vergeben seien, und gehe dann über Sicherheitsschleuse und Wartebereich ins Flugzeug, eine moderne Boeing 767.

Eigentlich wollte ich gleich nach der Ankunft in Mexico mit dem Bus nach Valladolid fahren, aber da mal wieder irgendwer im Flugbereich in Deutschland streikt, hatte der Flieger eine Stunde Verspätung und es ist schon dunkel jetzt.

Die Fahrt vom Flughafen zum Zentrum von Cancun führt über eine Hauptstraße, entlang der Strände und der großen Hotels. Ich fahre in kurzen Klamotten, rieche das Meer und stoße einen Freudenschrei aus. Endlich Urlaub, endlich Stimmung, sieben Wochen Radreise liegen vor mir.

Ich schlafe mit einem Argentinier und einem Franzosen, der in New York arbeitet, in einem Zimmer im Mundo Joven Hostel, das im Lonely-Planet-Reiseführer empfohlen wird. Der Franzose ist schon seit zwei Monaten auf Reisen und will noch nach Argentinien. Wir gehen auf die Dachterasse und trinken erstmal ein Bier, sprechen bestimmt noch über Fußball.

Nein, tun wir nicht, irgendwie sind die beiden nicht so sehr interessiert. Ich ja eigentlich auch nicht. Andere Themen sind wichtiger.

Das Essen im Flugzeug war grausig, ich habe Hunger und sehe von der Dachterasse aus einen Hamburger-Stand an der Straße gegenüber meines Hostels. Ich gehe runter und rüber, bestelle einen, der frisch gebraten wird – samt Zwiebeln und Brötchenhälften – und esse den leckersten Hamburger meines Lebens. Nicht weil ich Hunger habe sondern weil die Zutaten frisch sind, frisch auf einer großen Eisenplatte gebraten werden und das Hackfleisch nicht aus der Tiefkühltruhe kommt sondern am Mittag von der Verkäuferin mit Kräutern, Salz und Pfeffer gewürzt wurde und dann lediglich in der Kühlbox gelagert wurde.

Kulinarisch fängt das ja wirklich wunderbar an. Ich freue mich, was ich der Frau vom Stand auch sage. Die freut sich, dass ich mich freue.

Die anderen Mexikaner, die ich so umher stehen sehe, stopfen sich das Essen eher in den Mund als dass sie wirklich essen. Lennart mailt mir von zuhause aus, dass die Mexikaner statistisch gesehen die fettesten Menschen der Erde seien. Zwei von drei Menschen hätten Übergewicht und jeder dritte sei fettleibig. Ich zähle kurz durch und komme auf noch drastischere Werte. Das liegt aber wohl an meinem Standort vor einem Fast-Food-Stand in einer Stadt. Auf dem Land mag es anders aussehen – wir werden sehen.

Michael, zirka 40, Mexikaner, spricht mich auf englisch an. Das Übliche: Where’re you from? Why’re you here? Mein erstes Gespräch mit den Menschen von hier beginnt. Ich antworte auf spanisch, was Michael überrascht. Er antwortet dann auf deutsch, was mich überrascht. Michael arbeitet in einer internationalen Logistikfirma und spricht auch noch französisch und italienisch. Er fragt mich, was “I am proud to be a German” auf deutsch heißt. Diese Frage überrascht mich und ich erkläre, dass das keine übliche Floskel ist und dass es nur wenige Deutsche gibt, die diesen Satz ohne politische Hintergedanken über die Lippen bringen. Unsere Geschichte schwingt dabei mit und es gab nun mal Zeiten, in denen dieser Satz bei uns nicht nur Identität stiftete sondern im Gleichklang gewollte Ausgrenzung und Aussonderung.

Erst seit der Fußball-WM 2006 im eigenen Land mit Klinsi als Trainer sind wir Deutschen wieder etwas freier und können uns über unsere Erfolge freuen. Und, ja, auch stolz sein auf uns und unser Land.

Michael ist sehr interessiert und honoriert, dass Deutschland in der aktuellen Diskussion über Russland einen mäßigenden Einfluss auf die USA ausübt. Mir wird klar, dass wir Deutschen momentan einen ganz guten Ruf in der Welt genießen. Aber wir sind wohl auch ein seltsames Volk. Warum wir nackt baden würden, wollte mein Gesprächspartner wissen. Die Mexikaner und vor allem die Mexikanerinnen würden nicht mal im Traum daran denken. Da ziehe ich blank. Keine Ahnung, ob das einen speziellen Grund hat. Wenn wir Lust haben, machen wir’s einfach, sage ich. Michael meint, dass das was mit unserer weißen Haut zu tun hätte. Wenn bei uns die Sonne mal scheine, müssten wir das auch ausnutzen, um so viele Vitamine wie möglich produzieren zu können. Ich finde das schlüssig und stimme ihm zu, wenngleich ein leichter Hauch von Skepsis meine Antwort ein wenig verzögert.

Das Gespräch, das in einem Kauderwelsch aus englisch, deutsch und spanisch stattfindet, macht mir Spaß. Nach rund einer halben Stunde verabschieden wir uns und ich gehe in irgendein Fast-Food-Restaurant, kaufe mir mein Tagesbelohnungs-Eis und kehre zum Hostel zurück.

Dort setze ich mich auf eine Mauer, kurz darauf gesellt sich Melanie, geschätzte 40, aus Napa Valley, mit einer Flasche Tequila zu mir. Sie kommt gerade aus Kuba, muss über Mexiko wieder zurück in die Staaten, weil Direktflüge aus Kuba nach USA nicht erlaubt sind, hat sich verliebt in die Insel und einen jungen kubanischen Professor, der sie aber gleich wieder verlassen hat und jetzt ist sie traurig und betrunken und findet alle Männer :zensiert:. Wir reden – na ja, ich höre ihr höflicherweise zu – über Sport. Sie gibt an, sie würde die 10 km in 36 Minuten laufen. Trotz zweier Schachteln Zigaretten am Tag. Na ja…

Ich bin mir unschlüssig, ob ich Mitleid haben muss oder die Von-sich-selbst-überzeugte-Ami-Tussen-nach-der-sich-alle-richten-müssen-Schublade öffne, sie dort reinstecke und dann wieder schließe. Aus Höflichkeit und auch aus Interesse bleibe ich noch ein wenig sitzen und bin gespannt, ob und wie sie ihre noch halbvolle Flasche Tequila ganz leer trinkt. Das dauert knapp zehn Minuten, dennoch kippt sie nicht um und fängt auch nicht an zu lallen. Eine Gelegenheitstrinkerin scheint sie nicht zu sein.

Ich verabschiede mich höflich und gehe zu dem Franzosen und dem Argentinier auf mein Zimmer. Ein Kroate ist noch dazu gekommen, der schläft aber schon. Gute Idee, ich dann auch. Ganz schön viele Eindrücke in den ersten drei Stunden hier.


Sonntag, 25.1.2015: Von Cancun nach Chichen Itza, der Kultstätte der Maya


Ein guter Tag beginnt mit einem guten Frühstück. Und das ist hier gut. Es gibt frisches Obst, heißen Kaffee und knusprigen Toast mit Marmelade.

Die Bushaltestelle ist gleich um die Ecke, der Bus ist schon gebucht und bezahlt, ich packe mein Fahrrad stressfrei in den riesigen, leeren Kofferraum des Luxusliners mit Ziel Chichen Itza. Was ich nicht bedenke, ist, dass die Busfahrer in Mittelamerika ihre Klimaanlagen in der Regel auf Maximalleistung stellen. So sitze ich mit T-Shirt und dünner Reisehose in einem Kühlschrank und friere mir drei Stunden lang den Hintern ab. Trotzdem kann ich noch ein wenig schlafen, die Spannung der an mir vorbeirauschenden Landschaft hält sich in engen Grenzen und wirkt Ruhe fördernd. Der Busfahrer hält mit mexikanischer Folkloremusik in voller Lautstärke dagegen, ich habe zum Glück noch die Ohrstöpsel für den Flug in meiner Fototasche.

Die alte Maya-Kultur ist schon faszinierend. Neben den ganzen mathematischen und medizinischen Kenntnissen interessiert mich die Art, wie sie ihren Nationalsport, das Pelota-Spiel ausübten. Die Männer spielten den Ball auf einem 170 x 40 Meter großen Spielfeld. In Chichen Itza ist das Feld wunderbar ausgegraben und wieder hergerichtet.

Die Spieler durften den Kautschukball nur mit der Hüfte spielen. Keine Ahnung, wie die den dann durch das Loch an der Wand bekommen haben, was sie sollten, um zu gewinnen. Die Spiele sollen teilweise mehrere Tage gedauert haben und viele Verletzte gefordert haben.

Man weiß nicht genau, warum die Maya ausgestorben sind. Ich würde mich nicht wundern, wenn das was mit dem Spiel zu tun hatte.



Nun ist das Ansehen von Sehenswürdigkeiten und das Studieren derselben nicht so richtig mein Ding. Aber in dieser Kultstätte beseelt mich der Gedanke daran, wie die Menschen hier früher gelebt haben müssen. Und welches Wissen sie gehabt haben müssen. Ich gehe schweigend mit dem Fotoapparat durch die ehemalige Stadt.

Mein nächstes Hostel ist das La Candelaria in Valladolid, wohin ich am Abend mit dem Bus und dem Rad im Gepäck fahre. Ich bin begeistert. Es ist ein verträumter, bunter und offener Ort zum Entspannen und Schlafen. Leider bin ich noch gar nicht mit dem Rad gefahren, sonst hätte ich hier gerne einen Ruhetag eingelegt. Das wird morgen anders. Da kommt dann mein erster Radtag mit der 130-Kilometer-Tour von Valladolid nach Tulum. Und dann geht’s auch erstmals an die Karibikküste zum Baden.

Mehr Bilder gibt's hier und Fortsetzung folgt...



Geändert von joeyyy (19.03.15 22:56)
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#1114677 - 20.03.15 06:35 Re: Centroamérica en bicicleta [Re: joeyyy]
Roadcrew
Mitglied
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Beiträge: 151
Moin,
na, das trifft sich ja gut. Ich bin gerade am packen um die nächsten drei Jahre in Mexico zu leben. Mein Rad ist mit dabei und ich bin tierisch gespannt ob der offenen Zukunft, ob es das arbeiten oder mehr das Radfahren betrifft ? Ich hoffe ich habe die Gelegenheit mehr vom Land und den Leuten zu sehen, da ist der recht lange Zeitraum sicher ein hilfreich um tiefer einzusteigen. Ich bin gerade von einem zweiwöchigen Erstaufenthalt zurückgekommen und muss sagen, ich fühlte mich nicht unwohl.
Für Dich weiter die besten Wünsche,

mattes
Bin ich einmal ratlos, fahr ich mit dem Rad los.
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#1114712 - 20.03.15 08:23 Re: Centroamérica en bicicleta [Re: joeyyy]
benki
Mitglied Übernachtungsnetzwerk
abwesend abwesend
Beiträge: 415
In Antwort auf: joeyyy

und Fortsetzung folgt...

dafür
Ich bin schon sehr gespannt, wie deine Reise weitergeht. Auf alle Fälle gefallen mir der erste Teil deines Berichts und die Bilder schon sehr gut. Zentralamerika per Rad ist ein großer Wunschtraum von mir.

Gruß Frank
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#1114775 - 20.03.15 12:09 Re: Centroamérica en bicicleta [Re: benki]
indomex
Mitglied Übernachtungsnetzwerk
abwesend abwesend
Beiträge: 1.450
Da bin ich auch sehr gespannt, ich kenne ja nur die Gegenden nördlich und südlich deiner Route und träume immer noch davon, auch den "Mittelteil" mal radfahrend kennen zu lernen.
Leben und leben lassen
Liebe Grüße, Peter
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#1114793 - 20.03.15 12:55 Re: Centroamérica en bicicleta [Re: joeyyy]
joeyyy
Mitglied Übernachtungsnetzwerk
Themenersteller
abwesend abwesend
Beiträge: 999
...bin schon zügig beim Weiterschreiben.

Hier ist zur Info meine grobe Reiseroute:

Link zu Karte: Karte



Eigentlich wollte ich El Salvador auslassen und über die Copan-Ruinen durch Honduras fahren. Dann dachte ich, nachdem ich Chichen Itza und Tikal besucht hatte, dass ich genug Ruinen gesehen hätte und die Ruta de Flores in El Salvador ein lohnenswerteres Ziel sei.

Und was soll ich sagen? Genau, kommt noch cool

Geändert von Rennrädle (20.03.15 13:23)
Änderungsgrund: Karte in Link geändert
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#1115011 - 21.03.15 12:53 Re: Centroamérica en bicicleta [Re: joeyyy]
Roadcrew
Mitglied
abwesend abwesend
Beiträge: 151
Moin,
ich werde mich meist im Raum Puebla => San Jose Chiapa aufhalten, also doch eine ganze Ecke weg von Deiner Route aber durch die Vulkanlandschaften hoffentlich "efahrenswert".

Viele Grüße
Mattes
Bin ich einmal ratlos, fahr ich mit dem Rad los.
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#1115129 - 22.03.15 06:09 Re: Centroamérica en bicicleta [Re: joeyyy]
kettenraucher
Mitglied Übernachtungsnetzwerk
abwesend abwesend
Beiträge: 1.566
Famoser Auftakt zu einer sehr interessanten Reise. Ich bin sehr gespannt und voller Vorfreude auf die nächsten Berichte.
Allen gute Fahrt und schöne Reise.
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#1115139 - 22.03.15 07:24 Re: Centroamérica en bicicleta [Re: joeyyy]
Juergen
Moderator
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Beiträge: 14.208
Hi Jörg, in dieser Tiefe könnte das eine lange und interessante Geschichte werden! teuflisch
Das Maskenphoto fasziniert mich. Ich weiss nur noch nicht, warum es mich auf Anhieb so anspricht.

Danke für Deine Liebe zum Detail
Jürgen
° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° °
Reisen +
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#1115199 - 22.03.15 12:17 Re: Centroamérica en bicicleta [Re: joeyyy]
joeyyy
Mitglied Übernachtungsnetzwerk
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abwesend abwesend
Beiträge: 999
...ich freue mich über eure Vorfreude und ich bin - während ich so hier in Hannover schreibe und meine Bilder bearbeite - gedanklich wieder in Mexiko. Und ja, das könnte ein langer Bericht werden. Tut mir ja leid, aber es gibt doch immer so viel zu erleben und zu erfühlen, jeden Tag. Und für mich sind es die Kleinigkeiten und die Details, die auf einer großen Reise das Glück bringen. Und das macht ja auch die kleinen Reisen so schön.

verliebt

Und jetzt geht's erstmal weiter...




Montag, 26.1.2015: Von Valladolid über Coba und einem Sprung ins Nichts nach Tulum





Obwohl wir zu sechst in einem Zimmer wohnen, ist die Nacht ruhig und der Schlaf prima.

Um halbsieben stehe ich auf, um sieben gibt’s Frühstück. Und das ist perfekt für einen langen Fahrradtag geeignet. Um acht sitze ich dann auf dem Fahrrad.

Das Wetter ist perfekt und erstmals spüre ich dem eigentlichen Sinn meiner Reise nach. Landschaft, Leute, mein eigenes Ich. Kurz nach Valladolid geht es schon auf eine kleine Landstraße, die dann irgendwann in den Dschungel führt. Ich drehe um und merke relativ schnell, welchen Abzweig ich verpasst habe.

Die Pueblos sind klein hier, zur Siesta-Zeit sind nur ein paar streunende Dorfhunde und die Kinder, die von der Schule kommen, auf den Beinen. Alle anderen sitzen am Rand oder warten in ihren Häusern, dass die Mittagssonne ihren Kraftzenit hinter sich lässt.

Von einem Campesino, der gerade vom Feld kommt, kaufe ich ein paar Mandarinen. Wir kommen ins Gespräch. Er hat zehn Jahre in San Francisco gearbeitet, dann aber seiner Sehnsucht nach seiner Familie hier in Yucatan nicht mehr widerstehen wollen. Mit dem Geld aus den USA haben er und seine Frau sich hier eine kleine Farm aufgebaut. Glück, Gesundheit und Familie sind wichtiger als Geld und USA.

Überhaupt sind die Gringos aus dem Norden hier nicht überall gern gelitten. Wir lachen beide über Menschen, die ihre Hamburger lieben können (“I’m loving it!”).

In Coba, auf halber Strecke zwischen Valladolid und Tulum, entscheide ich mich, die dortigen Cenotes zu besuchen. Zunächst staune ich über den hohen Eintrittspreis. Als ich die Kavernen allerdings sehe, bin ich begeistert. Sie sind komplett unterirdisch, kein Tageslicht gelangt in sie. In der ersten bin ich allein, in der zweiten zieht eine tschechische Triathletin ein paar Trainingsbahnen. In der ersten kann ich noch widerstehen, die zweite allerdings bringt mich dazu, mein Radtrikot auszuziehen, mich zu duschen und mit der Radhose ins kalte Wasser zu springen.

Es gibt zwei Plattformen, von denen aus man ins Wasser springen kann: die erste ist circa 5 Meter hoch und die zweite knapp 10 Meter. Die komplette Höhle ist relativ spärlich beleuchtet, so dass man auf keinen Fall auf den Grund der Cenote sehen kann. Ich klettere gleich auf die 10 Meter-Plattform und schaue nach unten, schaue ins Nichts. Ich weiß, dass ich nicht lange nachdenken darf und gehe dann den einen, entscheidenden Schritt nach vorne. Und springe ins Nichts. Rein rechnerisch bin ich nur rund eineinhalb Sekunden unterwegs. In dieser Zeit allerdings passiert ganz viel in mir und mit mir. Ich merke, wie sich mein Bauch verkrampft, wie mein Magen ganz leicht wird. Die Zeit vergeht so langsam, dass ich beim Eintauchen trotz einer (wieder rechnerischen) Geschwindigkeit von rund 50 km/h merke, wie das Wasser an mir hoch gleitet. Nach dem Wiederauftauchen stoße ich einen Jubelschrei und auch Erleichterungsschrei aus.





Draußen gönne ich mir eine Kokosnuss. Der Junge, der sie mir verkauft, bietet mir Chili und frischen Limonensaft an, was ich auf die Kokosnussstückchen drauf tue. Meine Skepsis weicht einem interessanten Potpourri von Geschmäckern auf meiner Zunge.

Kurz nach Coba biege ich dann auf die Hauptstraße ab, die von Cancun nach Tulum führt. Die restlichen 50 km habe ich glücklicherweise Rückenwind, der mich in knapp 2 Stunden nach Tulum schiebt.

Am Ende meines ersten Radtages stehen 135 km auf dem Tacho. Ich bin zwar fertig, aber voller Eindrücke. Morgen fahre ich wieder mal mit dem Bus nach Chetumal an der mexikanischen Grenze zu Belize. Was dann kommt , weiß ich noch nicht. Mañana, mañana eben.

---

Mehr Bilder gibt's hier (klick).

Geändert von joeyyy (22.03.15 12:23)
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#1115210 - 22.03.15 14:40 Re: Centroamérica en bicicleta [Re: joeyyy]
joeyyy
Mitglied Übernachtungsnetzwerk
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abwesend abwesend
Beiträge: 999





Dienstag bis Donnerstag, 27./28./29. Januar 2015: Von Tulum/Mexiko über die karibischen Caye-Inseln nach San Ignacio/Belize

In Tulum finde ich ein ordentliches Hostel irgendwo in einer Hinterstraße. Der Coolness-Faktor ist schon recht hoch, lauter junge Leute sitzen, hängen, liegen herum und einige von ihnen klampfen auf der Gitarre.

Morgen soll’s dann wieder mit dem Bus nach Chetumal an der Grenze zu Belize gehen. Ich bin ein wenig unzufrieden damit, dass ich Yucatan und Quintana Roo fast nur mit dem Bus befahren habe. Auf der anderen Seite gibt die Karibik-Küste Mexikos landschaftlich halt nicht so viel her.

Der ADO-Bus rollt pünktlich in den Busbahnhof ein, der Gepäckraum ist leer, ich kann mein Fahrrad wunderbar hineinbugsieren. Allerdings vergesse ich, meine Fließjacke mit in den Fahrgastraum zu nehmen. Es ist schweinekalt dort, weil die Klimaanlage auf Hochtouren läuft. Zweieinhalb Stunden Fahrt bedeuten zweieinhalb Stunden frieren. Im Fernseher laufen irgendwelche mexikanischen Quiz Shows, ich kann dabei ganz gut einschlafen. Draußen rauschen die Bäume an mir vorbei, mit dem Fahrrad wäre das hier eher langweilig.

In Chetumal erfahre ich, dass die Fähre nach Caye Caulker um drei Uhr nachmittags fährt. Sie fährt nur einmal täglich. Jetzt ist es halbzwei und ich beeile mich, dass ich zum Hafen komme. Obwohl das Fahrkartenbüro der Belize Water Taxi Corp. seit fünf Minuten geschlossen hat, rede ich so lange auf eine der beiden Betreuerinnen ein, bis sie mir dann doch noch eine Fahrkarte verkaufen.

Das Boot ist ein ziemlich schnelles Teil, die Passagiere sitzen in seinem Bauch wie in einem Bus. Mein Fahrrad hat einen Logenplatz direkt an Deck hinter dem Kapitän.

Auf der Fahrt zur Insel und dem angeblich chilligsten Platz Belizes komme ich mit einem österreichischen Paar und einer Neuseeländerin ins Gespräch. Wir wollen in zwei Hostels, die direkt neben einander liegen. Die drei anderen wollen in Zimmern schlafen, ich möchte zelten. Es gibt auf Caye Caulker ein Hostel namens Bella’s, was einen Zeltplatz anbietet.

Alles klappt planmäßig, wir verabreden uns dann zum gemeinsamen Abendessen irgendwo an einem Straßenstand. Die bieten hier wie auch schon in Mexiko sehr gutes Essen zu sehr fairen Preisen an. Wir gehen zu Fran’s und essen red Snapper, frisch aus dem Meer und frisch vom Grill. Wirklich lecker!

Der Vibe der Insel ist fühlbar. Viele junge Menschen versammeln sich hier und haben viel Spaß miteinander. Die einheimischen Kreolen gehen absolut locker miteinander rum. Aus jedem Restaurant, an jedem Straßenstand, aus jedem Büro klingt Reggaemusik. An der Treppe zu einem relativ guten Restaurant steht ein Schild mit der Aufschrift “no shirt? no shoes? no problem!”

Wir bekommen zum Abschluss des Essens noch Rum-Punsch serviert und haben auch schon einige Flaschen belizisches Bier ausprobiert. Auf dem Weg zu meinem Hostel versuchen die Österreicher und ich der Neuseeländerin zu erklären, wie viele Dialekte es in der deutschen Sprache gibt. Viele. Mit ein paar Promille Alkohol im Blut ist das eine lustige Konversation. Auf meinem Campingplatz legen wir uns in die Hängematten und trinken den Rest des mitgebrachten Bieres. DIe Luft riecht nach Gras. Wir reden darüber, wie unsere Erlebnisse waren, als wir welches rauchten oder in Keksform aßen. Ich glaube, wir haben alle lange nicht mehr so herzlich gelacht.

Die Nacht ist allerdings sehr unruhig auf dem Zeltplatz. Ständig kommen irgendwelche Gruppen junger Leute an oder gehen weg, ständig wird die Musik laut gestellt und wieder leise gestellt, ständig wird gelacht und gequatscht und rumgegackert. Ich glaube, ich schlafe gerade mal drei oder vier Stunden.

Am nächsten Morgen habe ich einen leichten Hangover. Das ist nicht schlimm, ich chille in einer Hängematte einfach nur ab. Das ist ein ungewohntes Gefühl, einfach mal nichts zu tun. Kein Buch, kein iPad, kein Telefon, keine Gespräche, nichts. Mein Kopf brummt, mir ist schwindlig und ich genieße es, einfach nur hier zu liegen. Dennoch geht mir immer wieder der Gedanke durch den Kopf, jetzt doch auch mal was tun zu müssen.

Das ist dann wohl Urlaubsstress. Ich entscheide mich ganz klar, es einfach nur sein zu lassen. Heute bleibe ich hier. Ich kann mich dem allgemeinen Virus erwehren, in der sogenannten schönsten Zeit des Jahres, der Urlaubszeit, jeden Tag irgendetwas nachweisen zu müssen, irgendwo einen Haken dran zu machen.

Schön ist das.

Am späten Nachmittag schnappe ich mir dann meine Kamera und gehe über die Insel, die sehr überschaubar ist. Irgendwann in den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts rauschte wohl ein Hurrikan hier über die Insel und teilte sie in zwei Teile. Die Schneise, die der Wind hinterließ, nennt man hier den “Split”. Das ist der einzige Teil, wo man vernünftig schwimmen kann, da die Insel komplett mit Seegras umgeben ist.



Ich gehe wieder zurück ins Zelt, schnappe mir meine Schwimmbrille und schwimme in der Karibik. Es ist das gleiche Gefühl, das ich hatte, als ich mit Lennart in Kuba war. Einfach nur im Wasser schweben. Im Gegensatz zu Kuba gibt es hier ganz viele bunte Fische.

Die Nacht ist wieder ziemlich laut, irgendwelche Australier meinen, die Welt gehöre Ihnen. Die Neuseeländerin sagte auch, dass die Australier in Neuseeland nicht gut gelitten sind. Sie seien so etwas wie die Russen in Europa. Sie fallen in Scharen in die Touristen-Regionen ein, belegen alles, was frei ist und tun so als gäbe es keine anderen Gäste.

Selbst mit Wachsstöpseln in den Ohren fällt es mir schwer, einzuschlafen.

Am nächsten Morgen regnet es. Ich kann allerdings nicht mehr warten, da meine Fähre nach Belize City um acht Uhr abfährt. So packe ich das Zelt im Regen ein, den Rest hinterher und fahre zum Boots-Anleger.

Die Überfahrt nach Belize ist unspektakulär.

Die Fahrt durch diese Stadt ist schon ein spezieller Schnack. Verfahren solltest du dich hier nicht. Das Problem sind die jungen Kerle, die keine Arbeit haben. Gestern auf Caye Caulker sprach ich mit einem Ex Gang-Mitglied, der Spenden sammelt für Fußbälle, Pokale und Ähnliches, damit die Kids von der Straße kommen und was sinnvolles machen. Für so etwas spende ich gern etwas Geld, der Typ hat schon ganz spannende Geschichten erzählt.

Der Weg von Belize City nach Belmopan, das sind rund 80 Kilometer, ist extrem langweilig und sehr laut und dreckig. Ich bin froh, dass ich mir noch einen Rückspiegel ans Rad gebaut habe. So sehe ich des Öfteren Laster auf mich zukommen, die nicht ausweichen können, da auf der Gegenseite ebenfalls Laster fahren. Ich bin bestimmt zehn mal von der Straße runter gefahren und auf dem Randstreifen weitergefahren. Bremsen oder gar anhalten tut hier niemand für Fahrradfahrer.

Ab Belmopan wird es dann allerdings wirklich richtig schön. Hier fängt der tropische Regenwald an. Hier fangen auch die Hügel an. Es ist heiß und schwül, ein warmer Regenschauer kühlt mich ein wenig ab. Nach einer halben Stunde Fahrt bin ich allerdings wieder trocken, selbst der Schweiß auf der Haut verdunstet sehr schnell. An einem Straßenstand kaufe ich mir eine große Kokosnuss. Der Verkäufer schlägt sie auf und gibt sie mir zum Trinken. Das ist köstlich.



In San Ignacio finde ich ein ganz wunderbares Gästehaus, die ältere Besitzerin ist sehr freundlich zu mir. Ich habe heute ein Einzelzimmer und freue mich schon auf eine ruhige Nacht.

Ob ich morgen weiter nach Guatemala fahre, oder mir hier die berühmten Höhlen anschaue, weiß ich noch nicht. Ich werde das vom Wetter abhängig machen. Morgen soll es etwas länger regnen.

Aber eben: Mañana, mañana

---

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#1115875 - 24.03.15 23:22 Re: Centroamérica en bicicleta [Re: joeyyy]
joeyyy
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Sonntag, Montag, Dienstag 1.-3.2.2015: Von Flores über Poptun durch die Hölle ins Paradies nach Rio Dulce, Ruhetag mit Bootsfahrt nach Livingston




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Stan und ich frühstücken draußen, die Sonne geht hinter uns auf und strahlt den vor uns liegenden See an. Wir genießen einfach nur die Sicht und die Ruhe. Hin und wieder knattert eine Lancha vorbei – so heißen die länglichen Boote hier überall.

Kurz nach dem wir bestellt haben, gesellt sich Bridget zu uns. Sie ist Neuseeländerin, lebt in London, ist stinkreich und will allein durch Zentralamerika reisen. Sie verkörpert alles, was man als allein reisende Frau in Zentralamerika vermeiden sollte. Adrett geschminkt, Bauchtasche, Minirock mit nackten Beinen, orangefarbene Nike-Schuhe, Schmuck an Armen und Fingern. Sie sei “tough”, sagt sie. Und sie könne sich wehren, sagt sie. Stan und ich schauen uns an und heben die Augenbrauen. Na denn, eine “tough”e Frau wird sich sicherlich keine Bedenken zweier alternder Männer anhören.

Bridget redet ohne Punkt und Komma, Stan lädt mich zwischenzeitlich zu sich nach London ein.

Bridget hat natürlich nicht viel Zeit und so sind Stan und ich bald wieder ungestört.

Es war ein harmonischer Tag, gestern in Tikal, wir bemerken das beide. Weil eine solche Harmonie zwischen zwei Menschen selten ist und wir das wissen.

Die Fahrt raus aus Flores ist eher langweilig. Die ersten fünfzig Kilometer sind wellig und gerade, kultiviertes Land allerorten, hin und wieder Wald, Urwald.

Es ist zu sehen, dass die Bauern ihr Land roden. Den Wald dann abholzen, wenn sie Land brauchen. Klare Regeln vermute ich hier nicht. Strafen für unerlaubtes Abholzen auch nicht. Wahrscheinlich, weil es erlaubt ist.

Das Land wird für das Vieh benötigt. Ich weiß gar nicht was die Rinder hier fressen, es sieht alles so karg und verdörrt aus. Wie die Rinder. Riesige Laster mit Rindern überholen mich immer wieder oder kommen mir entgegen. Es ist heiß und die Tiere sind sehr beengt eingesperrt. Ich möchte kein Rind in einem solchen Laster sein.

Natürlich stelle ich mir immer wieder die Frage, ob es richtig ist, Fleisch zu essen – insbesondere wenn ich sehe, wie das Land gerodet wird, wie die Tiere gehalten werden, wie sie transportiert werden. Die Tierhaltung hier ist offensichtlich nicht so konzentriert wie bei uns. Die Rinder stehen auf der Weide und können zumindest ein naturnahes Leben leben, riesige tierverachtende Stallungen habe ich hier noch nicht gesehen.

Es sind eben auch Kleinbauern hier, die die Viecher halten und damit den Unterhalt ihrer Familien sichern. Ich kann nicht klar und deutlich beurteilen, welches Verhalten von mir richtig und welches falsch ist.

Nur eins weiß ich: Das Nationalgericht in nahezu allen Ländern Zentralamerikas ist irgendwas mit Pollo, Hühnchen. Und Hühner sehe ich hier höchstens einmal in privaten Vorgärten herumlaufen. Das heißt: wenn die komplette Bevölkerung mit Hähnchenfleisch versorgt wird, ich aber in freier Natur keine Hühner und Gockel sehe, dann muss es irgendwo konzentriert Zucht- und Mastanlagen wie bei uns geben.

Das bedeutet für mich: Muchas gracias, pero no pollo. Kein Hühnchen auf meinem Teller.

Was ich aber genieße, ist das frische Obst, das es überall zu kaufen gibt. Manche Straßenstände verkaufen ausschließlich Kokosnüsse, manche ausschließlich Melonen, manche bieten alles an.

Und häufig laufen die Kinder der Verkäuferinnen um die Stände herum. Diese Kinder sind sehr aufgeweckt, interessiert und freundlich. Ich bin seit meiner Marokko-Reise etwas vorsichtiger geworden im Umgang mit Kindern in fremden Ländern. Nicht alle Kinder sind freundlich, manche sogar recht agressiv. Hier allerdings habe ich bisher noch keine agressiven Kinder erlebt.

Lustig finde ich es, wenn die Kinder mich “Gringo” nennen und die Mutter ganz erschreckt und peinlich berührt den Finger vor den Mund hält. Dieser Begriff wird in Mittel- und Südamerika gerne für die großen “Brüder” im Norden benutzt, die zwar bewundert werden, aber nicht wohl gelitten sind.

Gegen Abend suche ich mir in der Nähe von Poptun einen Zeltplatz. Leider ist das hier kaum möglich, überall stehen Zäune. Und bevor ich mir Gedanken mache, wie ich in einem unbeobachteten Moment mal über einen Zaun springe oder drunter durch krabbel, frage ich einfach im nächsten Hotel nach einer Zeltmöglichkeit im Hotelgarten. In Poptun allerdings kostet eine komplette Cabin, das sind Gartenhaus-ähnliche Zimmer, nur rund zehn Dollar. Die buche ich dann und freue mich auf ein ordentliches Pollo-freies Abendessen.

Ich kalkuliere mal kurz meine Reisekosten von heute durch: 5 Dollar für’s Frühstück, 3 für Eis und Kolas unterwegs, 4 für’s Mittagessen und Obst zwischendurch, 14 für Abendessen und Übernachtung. Also zwischen 25 und 30 Dollar, wenn ich im Hotel übernachte und mir mein Essen nicht selbst bereite. Das ist preiswert.

Am nächsten Morgen spreche ich mit dem Hotelbesitzer endlich mal über Fußball. Das Brasilienspiel ist bei ihm noch in bester Erinnerung. In meiner auch. Ich muss gestehen, dass ich nicht mal mehr den Endstand des Endspiels weiß und ob wir in der Verlängerung gewonnen haben oder in den ersten 90 Minuten. Aber dass wir sieben zu eins gegen Brasilien gewonnen haben und alle irgendwie überrascht waren und sich am Ende sogar die Brasilianer mit uns gefreut haben, daran kann ich mich noch gut erinnern. Mein Gastgeber und ich grinsen beide bis über beide Ohren in Gedanken an dieses denkwürdige Halbfinale im letzten Jahr. Wenn ich zuhause bin, muss ich mir das nochmal auf Youtube anschauen. Immer wieder gerne…

Die Fahrt nach Rio Dulce ist jetzt nicht so spannend. Aber heiß. Ich merke die Hitze jetzt das erste mal so richtig heftig und zehrend. Normalerweise komme ich locker mit drei Litern Wasser am Tag aus. Heute werden es inklusive den kalten Kolas aus den Straßenläden und Tankstellen locker zehn Liter Flüssigkeit. Und ich musste nicht pinkeln. Und meine Haut ist trocken. Krass.

Die Sonne brennt, die Laster brausen an mir vorbei, es staubt, es ist laut, die Viehtransporter stinken – das muss ein kleiner Vorgeschmack auf höllische Umstände sein.

Am Abend erreiche ich völlig fertig und ausgedörrt Rio Dulce und fahre zum Castillo San Felipe. Ich möchte gerne im Hostel Kangaroo einen Ruhetag einlegen und morgen nach Livingston fahren. Doch um ins Hostel zu kommen, muss ich den Chef dort anrufen und sagen, dass er mich abholen soll. Ich habe allerdings kein Telefon. Der Wärter des Castillos kann mir auch nicht weiterhelfen, will auch nicht für mich telefonieren. Während wir den Preis für ein vielleicht doch mögliches Telefonat aushandeln, kommen zwei Frauen aus dem Schlosspark. Der Wärter erkennt die eine der beiden als die Frau des Chefs des Kangaroo. Er verweist mich an sie, sie nimmt mich mit zum Anleger und ich fahre mit ihr und einem der Hotel-Angestellten durch die Mangroven ins Kangaroo. Was bin ich froh, dass das geklappt hat.

Das Kangaroo ist nach der Hölle auf der Straße für mich heute das Paradies im Dschungel. Man gelangt nur mit einer Lancha, einem Boot, dorthin. Es gibt keine Fenster, nur Mückennetze. Die Türen stehen ständig offen, Hängematten überall, kaltes Bier an der Theke, ein tolles mexikanisches Essen, ein Dormitory (Schlafsaal) mit guten Betten und viel Platz und lediglich einer Japanerin als Mitbewohnerin. Ich fühle mich sehr wohl und privilegiert.

Ruhetag. Ich wache auf, habe wunderbar geschlafen, nur die Mückennetze über den Betten haben Löcher. Aber mittlerweile stören mich die Piekser nicht mehr. Sie nerven nachts mal für fünf Minuten mit einem Jucken, das ich aber mittlerweile gut ignorieren kann.

Ich freue mich über ein üppiges Frühstück ohne Reis und Bohnen und sitze dann um neun im Boot, das mich mit noch ein paar anderen Leuten nach Livingston bringt. Livingston ist ein typischer Karibik-Ort, untypisch für Guatemala. Dort leben hauptsächlich Garifuna, dunkelhäutige Nachfahren afrikanischer Sklaven und europäischer Piraten. Und die Garifuna leben auch hauptsächlich nur dort.

Die Fahrt über den Rio Dulce durch den Dschungel ist spannender und schöner als die Stadt Livingston. So schlendere ich durch die Stadt, esse in einem Straßenrestaurant eine sehr leckere Fischsuppe und warte am Hafen auf die nächste Lancha zurück ins Kangaroo.

Am Abend ziehe ich dann meine Badehose an und bade vor dem Hostel im Rio Dulce. Greg, der Besitzer hat eine Liane an einem hohen Baum angebracht, an der ich schaukeln und dann ins Wasser springen kann. Herrlich.

Beim Abendessen lerne ich John aus Nebraska kennen. Er ist Maurer und versucht hier, seine Probleme zu überdenken. Seine Frau kommt aus Guatemala, hat aber ihre Familie nach Nebraska nachgeholt und John fühlt sich jetzt ausgenutzt. Auch fühlt er sich missverstanden. Er ist einfach nur Mann, sie ist auch noch Mutter eines Kindes aus einer früheren Beziehung. Und Frauen, die Kinder aus früheren Beziehungen haben, sind in erster Linie eben Mütter. Ganz natürlich. Aber für den Mann, der dann möglicherweise als Nichtvater ihrer Kinder, aber als aktueller Lebenspartner in das Leben einer existierenden und erprobten Mutter-/Kinder-Familie tritt, wird es beliebig schwierig. Patchworkprobleme. Und dann auch noch international. Wir quatschen bei drei bis fünf Bier ziemlich viel, verabreden uns für morgen zum Frühstück und dann kann ich gegen zehn Uhr abends wunderbar müde einschlafen.

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Fortsetzung folgt...
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#1117497 - 30.03.15 21:39 Re: Centroamérica en bicicleta [Re: joeyyy]
joeyyy
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Mittwoch, 4.2.2015: Von Rio Dulce nach El Estor




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El Estor, wo zum Kuckuck liegt El Estor?

Das wird mein Etappenziel heute sein, nachdem ich entschieden habe, nicht direkt nach Honduras zu fahren sondern ins Hinterland nach Semuc Champey, zu dem Ort, wo das Wasser sich versteckt. Greg, der Chef des Kangaroo, bestätigte meine Befürchtungen, dass die Straße von Rio Dulce nach Copan eine Haupttransportroute für die ganzen Erze ist, die im Hinterland abgebaut und in Puerto Barrios verschifft werden. Das tue ich mir nicht an. Außerdem habe ich jetzt zwei alte Maya-Ruinenstädte gesehen, die dritte in Honduras tausche ich virtuell gegen ein Naturspektakel in Guatemala ein.

Erstmal aber wird in Ruhe gefrühstückt. Ich chille bis um zehn und frühstücke dann mit John aus Nebraska. Jetzt erzählt er mir alles. Der Typ ist Maurer, braucht gerade eine Auszeit von seiner Frau, die aus Guatemala stammt. Familiending. Er wollte eine attraktive Frau, kriegt eine Familie mit 16-jährigem Sohn, Schwager, mehreren Schwägerinnen und einer Schwiegermutter. Alle Letztgenannten bestimmen seit sechs Jahren sein Leben. Jetzt ist er für zwei Wochen ins Paradies ausgewandert, um Fragen zu stellen und Antworten zu finden. Die soziale Hektik, sagt er, passt nicht in das Leben in Nebraska. Das Leben dort sei wie das Land, sagt er: flach. Und genau das macht er jetzt zwei Wochen lang: flach leben. Mit dem Kajak durch die Mangroven chillen, in Rio Dulce, einem kleinen Kaff mit lautem Durchgangsverkehr, Pizza essen, im Kangaroo an der Theke abhängen.

Gegen halb zwölf setze ich mit John über und fahre von Rio Dulce aus nicht Richtung Süden sondern Richtung Westen. Gute Entscheidung, aber erst ab El Estor. Denn bei El Estor liegt eine der zehn größten Nickel-Minen der Welt und die Straße dorthin ist zwar eine zweitklassige, aber das macht es nur enger. Hitze, Staub und Lärm machen mir ganz schön zu schaffen.

Aber ich kann fahren, wegfahren. Die Menschen in den Pueblos direkt an der Straße nicht. Die Häuser stehen wirklich direkt an der Straße und sind aus Bambusrohr und Schilfgras gebaut. Das heißt, sie sind offen. Die Laster dröhnen keine drei Meter entfernt an ihnen vorbei, mit der Geschwindigkeit, die die Straßen hergeben, nicht die angemessen wäre, um spielende Kinder und streunende Hunde zu schützen. Und nachts, sagt eine Comedor-Besitzerin, wird das noch schlimmer. Da geben sie richtig Gas. Diese Trucks sind keine Laster, wie sie in Deutschland fahren, sondern alte amerikanische Riesendinger, die laut, dreckig und angsteinflößend sind. Die Amis bauten sie für lange, gerade Straßen, nicht für zweitklassige guatemaltekische Hinterlandwege.

Die Luftwirbelbremsen, die die Dinger anwerfen, wenn es bergab geht, dröhnen locker mit über 100 Dezibel. Und es geht häufig bergab hier, auch in den Pueblos.

Irgendwie komme ich dann doch in El Estor an. Die Stadt ist größer als ich dachte. Im Lonely Planet wird ein Hotel empfohlen, das leider besetzt ist. Ich fahre zum nächsten und habe mehr Glück. Nach einer ausgiebigen Dusche gehe ich zum Lago Itzabal, dem größten See des Landes. Dort geht gerade die Sonne unter, ich setze mich auf einen Fähranleger und gebe mich der Stimmung hin.

Es ist ja so, dass man sich schon mal verlieben kann – ich meine jetzt nicht in andere Menschen. Ich meine auch nicht Sachen wie ein Fahrrad oder einen Fotoapparat. Auch nicht Tiere, wobei die ja rein juristisch Sachen sind. Auch nicht in Hamburger, wie uns die Werbung von Mc Donalds weis machen will. Wobei: Wenn man in Tiere verliebt ist, darf man keine Hamburger lieben, jedenfalls nicht die von Mc Donalds. Aber das nur am Rande.

Ich meine Verlieben in eine komplexe Idee, eine Utopie oder in ein Land. Und wenn so etwas wirklich geht, dann bin ich in Guatemala verliebt.

Ich meine, Bayern ist nett, Italien und Kanada auch. Auch Ostfriesland hat seinen Charme. Aber nein, die haben nicht das, was ich meine.

Guatemala hat mich irgendwie gefunden. Oder ich es. Ich dachte immer, dass ich vielleicht mal nach Freiburg ziehe. Das hat sich jetzt erledigt. Wenn ich irgendwann mal wirklich wegziehen wollte, dann nach Guatemala.

Tja, warum dieses kleine, vom Bürgerkrieg noch vernarbte Land? Ich weiß es nicht wirklich. Es wird von Kanadiern und dem belgischen Solvay-Konzern ohne Skrupel und Rücksicht auf indigene Kultur ausgebeutet, die Bauern holzen die Urwälder ohne Sinn und Verstand ab, die Regierung ist korrupt, die Kriminalität hoch, die Laster sind laut, überall liegt Müll rum, tote Kühe inklusive.

Und dennoch fühlte ich mich in noch keinem Land so herzlich (sic!) willkommen wie hier.

Da ist das ständige Winken und freundliche Rufen der Menschen vom Straßenrand. Auch wenn ich als “Gringo” sicher eine Besonderheit bin. Noch nie habe ich so viele Menschen gegrüßt wie hier. Hier gilt wirklich, dass ein Lächeln die kürzeste Entfernung zwischen zwei Menschen ist.

Die Natur ist famos, auch wenn hier gerade im großen Stile der Regenwald gerodet wird. An der Basis wissen die Menschen hier aber, dass das nicht richtig ist.

Ach, was soll ich denken? Wer bitte will mit dem Kopf begründen, was das Herz entscheidet?

Wir alle haben Lieblingsirgendwasse und mein Lieblingsland ist jetzt Guatemala.

Ich fotografiere ein wenig, dann setze ich mich wieder, neben eine junge Frau im Arztanzug. Ich lese nur “Dra. Kim” auf dem Namensschild und frage sie auf englisch, ob sie hier irgendein Praktikumsjahr mache. Sie antwortet auf spanisch, dass sie hier ganz normale Kinderärztin sei und in der örtlichen Klinik arbeite. Ich bin überrascht, da ich in ihr eine Amerikanerin oder Kanadierin vermutete. Nein, sie kommt aus der Ciudad, wie die Guatemalteken ihre Hauptstadt nennen.

Wir kommen ins Gespräch, dabei stellt sich heraus, dass sie in Kuba studiert hat, wie so viele Ärzte aus Lateinamerika. Mir kommt zugute, dass ich für einen Spanischkurs mal ein Referat über das Gesundheitssystem in Kuba recherchiert und gehalten habe.

Nach wenigen Augenblicken steht fest, dass wir uns noch stundenlang unterhalten könnten und so lade ich sie zum Abendessen ins nächste Restaurant am See ein. Schön, dass ich mir das leisten kann und noch schöner, dass Kim die Einladung annimmt. Wir essen die örtliche Spezialität, eine Fischsuppe, bei der ich zwar den Fisch und die Garnelen sehen kann, aber die Suppe nicht. Wie lecker Essen schmecken kann, wenn die Zutaten frisch sind! Hier in Zentralamerika wird gar nicht viel gewürzt – Salz genügt. Den Geschmack erhält das Essen durch die Zutaten und ihre Kombinationen.

Kim würde gerne bei den Ärzten ohne Grenzen arbeiten, möchte aber ihre Familie nicht verlassen, die ein Stück weit auf sie angewiesen ist. Es ist eine Familiengeschichte, in der der Bürgerkrieg in Guatemala und in El Salvador eine wichtige Rolle spielt.

Gegen Mitternacht bringe ich sie dann zu ihrem Hotel, in dem sie die Woche über wohnt. Wir verabschieden uns herzlich mit gegenseitigen Einladungen nach Guatemala Ciudad und nach Hannover. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich nochmal nach Guatemala reisen werde. Und dann hoffe ich, Kims Einladung annehmen zu können.

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Fortsetzung folgt...

Geändert von joeyyy (30.03.15 21:44)
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#1117527 - 31.03.15 07:06 Re: Centroamérica en bicicleta [Re: joeyyy]
memy
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Dank dir für den informativen Bericht und die lebendige Schreibe, die sich mit Vergnügen liest!
Auf die wordpress Seiten (und damit auf deine Fotos) kann ich hier nicht so einfach zugreifen, aber das werde ich gewiss nachholen.

Danke!
Horst
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#1117698 - 31.03.15 16:30 Re: Centroamérica en bicicleta [Re: memy]
joeyyy
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In Antwort auf: memy
Dank dir für den informativen Bericht und die lebendige Schreibe, die sich mit Vergnügen liest!
Auf die wordpress Seiten (und damit auf deine Fotos) kann ich hier nicht so einfach zugreifen, aber das werde ich gewiss nachholen.

Danke!
Horst


...Oh, Du bist im Iran? Da will ich nächstes Jahr hin. Wordpress steht da wohl auf der schwarzen Liste, oder? Vielleicht kriegen die ja demnächst den Knoten mit dem Atomprogramm durchgeschlagen und dann wird das dort auch wieder etwas lockerer.

Damit Du nicht so lange warten musst, hier noch ein paar Eindrücke:











Gruß,

Jörg.
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Off-topic #1117818 - 01.04.15 09:42 Re: Centroamérica en bicicleta [Re: joeyyy]
memy
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Ja, wordpress, facebook etc sind hier nur unter zuhilfenahme von vpn einzusehen. Da ich bislang auch gut ohne diese "Hilfsmittel" ausgekommen bin, fange ich damit während der letzten 2-3 Wochen im Iran auch nicht mehr an.

Ich bin mir sicher, daß der mittlerweile möglich erscheinende Wegfall der Embargos auch viele negative Entwicklungen mit sich bringen wird. Wenn das Land, durch den Anschluß an die internationalen Geldmärkte, erstmal offen ist für die großen Konzerne, wird Konsum auch hier einen anderen Stellenwert bekommen. Und ob es in 5-10 Jahren dann noch so viele kleine Einzelhändler gibt wie heute und ob der Anteil der national produzierten Güter genauso hoch bleibt, wie er dato ist... kann man zumindest bezweifeln. Ich denke so eine Entwicklung kann langfristig eine ganze Gesellschaft umkrempeln.
Aber vielleicht erweist sich die Regierung um Rohani ja als klug genug um das alles etwas zu reglementieren/auszubremsen.

Ich wünsche dir weiterhin so tolle Reisen und viele interessante Begegnungen
Hoffentlich bin ich noch so lange unterwegs, dass ich es mal bis nach Zentralamerika schaffe - ein Ecke dieser Welt, die ich auch gerne 'erfahren' würde.

Horst

ps: Was "cenotes" sind mußte ich nachschlagen - bestimmt ein tolles Erlebnis dort schwimmen zu gehen.
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#1118221 - 02.04.15 17:43 Re: Centroamérica en bicicleta [Re: joeyyy]
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Donnerstag, 5.2.2015: Von El Estor bis auf eine Passhöhe 1.000 Höhenmeter





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Ich wache auf mit tollen Gedanken. Der Abend gestern hat mich darin bestärkt, den jungen Leuten die Zukunft anzuvertrauen, die wir alle brauchen.

Hinter El Estor geht es dann rauf in die Berge. Zuvor komme ich an der Nickel-Mine vorbei, die hier in der Region, aber auch im ganzen Land, Wohl und Wehe bedeutet. Sie ist die größte ihrer Art in ganz Zentralamerika. Die Leute reden viel von ihr. Präsident Pérez bezeichnet sie als die größte Investition Guatemalas.

Niemand kann mir sagen, wozu Nickel eigentlich gebraucht wird und die Menschen hier sind der Meinung, Pérez hätte einen Deal mit den Russen gemacht, die das Land jetzt ausbeuten.

Da ich ja mein iPad dabei habe, schaue ich schnell mal nach: Die zyprische Solvay-Group, eine russische Investment-Firma, übernahm die Mine vor zwei Jahren von einer kanadischen Firma, nachdem immer wieder Menschen verschwanden, vergewaltigt oder gleich ermordet wurden, die sich gegen die Mine und ihre furchtbaren Auswirkungen stellten. Die kanadische Firma muss sich wohl in Kanada für Ermordungen und Vergewaltigungen hier in Guatemala wegen ihrer Mine verantworten und so hat sie die Mine an die Russen verkauft. Die müssen sich nicht verantworten.

Nickel wird hauptsächlich zur Herstellung von Edelstahl benötigt. Und zwar für Edelstahl, den wir dann in unseren Waschmaschinen, Spülen, Kochgeschirr und ähnlichem wiederfinden.

Okay, also kann ich noch nicht mal großartig rum mosern, schließlich habe ich eine Geschirrspül- und eine Waschmaschine. Na gut, meine Spüle ist aus Keramik, aber die Auspuffanlage meiner alten BMW ist aus Edelstahl und sicherlich noch weitere Gegenstände in meinem Besitz. Es ist aber auch ein Drama: Mein Konsum kostet mich Geld und an ganz anderer Stelle auf dieser Erde die Menschen Lebensqualität.

Und das Schlimme daran ist ja, dass die Menschen hier in Guatemala, die unter dieser Mine leiden müssen, die im Kampf gegen Unterdrückung und Enteignung sterben, überhaupt nicht die Möglichkeit haben, sich die Dinge zu kaufen, die mit dem geförderten Erz hergestellt werden. Keine Familie hier in den Bergen besitzt eine Waschmaschine. Es gibt ja noch nicht mal überall fließendes Wasser oder Strom hier. Mir kommen in den Momenten solcher Gedanken unsere Diskussionen, die wir zuhause in Deutschland führen – zum Beispiel ob jetzt Obst abgepackt oder lose verkauft werden soll – eher klein vor. Und ich fühle mich unwohl, wenn ich an den traumatisierten Kindern vorbeifahre, die auf den Armen nicht weniger traumatisierter junger Mütter an den Straßen sitzen, über die die riesigen Trucks die Erze und den Urwald wegfahren und dafür Brennstoffe, Öl und Chemikalien zur Mine hin bringen. Eine Kiosk-Besitzerin kurz vor Panzos erzählt mir, dass die Mine in den achtziger Jahren stillgelegt wurde, damals starben angeblich rund 3.000 Guatemalteken durch Militär und Geheimdienst, weil sie sich gegen die Ausbeutung ihres Landes und Zer- und Umsiedlung widersetzten. Seit der Wiederinbetriebnahme der Mine vor rund zwei Jahren sind auf den Straßen am Lago Izabal zwischen Panzos und Rio Dulce weder Hunde noch spielende Kinder mehr zu sehen. Die Lastwagenfahrer nähmen keine Rücksicht auf die Schwächeren. Das kann ich als Fahrradfahrer absolut bestätigen.

Mehr als darüber berichten und mein Umfeld zum Nachdenken anregen kann ich allerdings auch nicht. Ich wünschte, ich wäre Journalist und könnte ohne Zeit- und Finanzdruck Zusammenhänge recherchieren. Ich nehme mir das Recherchieren für zuhause vor und will jetzt hier weg. Will die Mine nicht mehr sehen und die Trucks nicht mehr hören und riechen. Ich biege jetzt ab, Richtung Cahabón.

Die Straße, die mich erwartet, ist nicht wirklich eine Straße. Eher ein Weg aus Steinen und Lehm. Und dieser Weg führt in die Berge, jetzt gerade berauf. Obwohl es die erste Straße ist, die ich fahre, auf der es wohl egal ist, ob man bergauf oder bergab schiebt. Denn Fahren funktioniert hier nicht, mit einem Reiserad auf 40er Straßenreifen.

Die Reifen nehmen den Lehm und lauter kleinere Kieselsteine wie Kleber auf und schmieren ihn von innen ans Schutzblech, so dass alle zehn Meter beide Räder blockieren, wenn sich ausreichend Kleber zwischen Reifen und Schutzblech angesammelt hat. Ich suche mir einen Stock am Wegesrand und stochere den Raum zwischen Reifen und Schutzblech wieder frei. Dann schiebe ich zehn Meter, dann stochere ich. Dann schiebe ich zehn Meter, dann stochere ich. Ich versuche es am Wegrand, ich versuche es in den Fahr-Rillen, ich versuche es in der Mitte des Weges. Es bleibt das Selbe: Dann schiebe ich zehn Meter, dann stochere ich.

Diese Art des Radreisens hat auch etwas Kontemplatives. So brauche ich nicht viel denken, muss mich aber konzentrieren, brauche nicht auf den Verkehr achten, muss aber dennoch mit ihm rechnen. Ich gehe einfach. Gehe mit meinem Fahrrad an der Hand. Ich frage mich, ob ich ein Einzelgänger bin. Ich würde jetzt, hier, niemanden bei mir haben wollen. Ich genieße es, allein zu sein. Ich bin nicht einsam. Nur allein. Kann ich das sagen, weil ich weiß, dass zuhause Menschen auf mich warten? Weil ich weiß, dass ich in eine Gemeinschaft eingebunden bin? Wie wäre es, wenn ich das nicht wäre? Wäre ich dann auch so gern allein und dennoch nicht einsam?

Ohne Beachtung können wir nicht leben. Das steht fest. Also brauchen wir immer den anderen, um uns selbst wahr zu nehmen, uns zu erkennen und uns zu versichern. Aber muss der andere – oder besser: Die andere – immer die selbe sein? Kann das nicht auch gestern Kim und heute die Kioskbesitzerin und morgen irgendein anderer Reiseradler sein?

Nein! Kann nicht! Jedenfalls für mich. Ich liebe. Ich liebe einige wenige Menschen, denen ich immer wieder ganz nah sein möchte. Für die ich Verantwortung trage – und das sogar gern. Somit trage ich auch Verantwortung für mich selbst. Ich könnte mir nicht vorstellen, ohne diese Verantwortung für mich selbst und für andere zu leben. Ein Einzelgänger geht einzeln durch sein Leben. Das bringt mit sich, dass er unmittelbar nur für sich selbst Verantwortung übernimmt. Selbst das könnte man in Frage stellen. Damit können ihm Meinungen anderer Menschen ihm gegenüber komplett egal sein. Weil er als Einzelgänger ja keinen anderen Menschen liebt. Beim Nachdenken kann ich für mich feststellen, dass das für mich nicht zutrifft.

Also bin ich kein Einzelgänger. quod erat demonstrandum, Erleichterung. Wie oft schon musste ich mich mit dieser absurden Einschätzung auseinandersetzen. Menschen, die mich nicht gut kennen, schätzen mich schnell als Einzelgänger ein. Können sie jetzt, ich kann das beruhigt ignorieren.

Es beginnt wieder zu regnen. Ich bin jetzt auf rund 1.000 Höhenmetern und es ist fünf Uhr nachmittags. In einem kleinen Bergdorf sehe ich eine Kirche und frage bei einem Kioskbesitzer, ob der Pfarrer hier wohnt. Der Mann versteht mich nicht. Ich versuche es mit anderen Worten, immer noch kein Gespräch. Ein junger Mann kommt dazu und übersetzt. Nein, der Pfarrer wohnt in Cahabón, rund zehn Kilometer entfernt. Ich frage, ob ich neben der Kirche übernachten könnte. Da müsste ich den Pfarrer fragen. Ich frage, ob ich irgendwo übernachten könnte. Die beiden Männer schauen mich fragend an. Ich erkläre, dass ich ein eigenes Haus und ein eigenes Bett dabei hätte und nur einen kleinen Platz bräuchte, der einigermaßen gerade sei. Der ältere Mann spricht eine der alten Maya-Sprachen, deshalb können wir uns nicht verstehen. Ich hätte nicht geglaubt, dass es hier Menschen gibt, die kein Spanisch sprechen. Nur die jungen Leute, die im Tal in die Schule gehen, würden Spanisch lernen, sagt der jüngere der beiden.

Ich kann mein Zelt auf dem zentralen Dorfplatz aufstellen, der sogar überdacht ist. Das Dach bringt allerdings nicht viel, da das Dorf auf einem Pass liegt und der zentrale Platz dem Wind komplett ausgesetzt ist. Dieser Wind bringt den Regen dazu, horizontal zu prasseln. Ich beginne als erstes, mir fette Steine am Wegesrand zu suchen, da ich das Zelt nicht mit Heringen abspannen und gegen den Wind sichern kann. Die dem Wind zugewandte Seite befestige ich mit meiner 10-Meter-Wäscheleine an den Dachpfosten des Marktplatzes. Der Rest wird mit den Findlingen abgespannt.

Ich habe mein Zelt noch nicht ganz aufgebaut, da steht auch schon das halbe Dorf unter dem Dach und schaut mir zu. Vor allem die Kinder sind sehr interessiert. Sie freuen sich ob der kurzweiligen Abwechslung und laufen und tanzen um mich, das Fahrrad und das Zelt herum. Es kommt natürlich wie es kommen musste, einer der Bengel stolpert über eine Abspannleine und fällt auf die Nase. Ich helfe ihm auf, er weint und ich gebe ihn in die Arme seiner Mutter. Die lächelt, tröstet ihren Kleinen und der ist ganz schnell wieder unten. Die Leute hier sehen solch einen Vorfall absolut locker. Ich vergleiche: Was rennen die Mütter auf den hannoverschen Spielplätzen wie die aufgeregten Hühner durcheinander und beschimpfen sich und ihre Kinder gegenseitig, wenn das eigene Kind plötzlich eine blutende Nase hat… Ich hänge ein paar Klamotten über die Abspannleinen, damit diese besser sichtbar sind.

Der Kioskbesitzer scheint hier so etwas wie der Dorfälteste zu sein – er lädt mich zu sich nach Hause zum Abendessen ein. Die Einladung nehme ich gerne an, entgehe ich doch so den ganzen Fragen der versammelten Dorfgemeinschaft, die ich leider nicht verstehe und somit auch nicht beantworten kann.

Das Haus, in das ich komme, ist ein einziges Zimmer, zirka 20 Quadratmeter groß. Die Wände sind aus Holz, Fenster gibt es nicht. Zwischen Dach und Wänden ist an allen Seiten ein zirka 20 Zentimeter breiter Spalt, durch den der Wind rein- und wieder rausgelangen kann. Das muss er auch, da der Ofen, der in der Mitte des Hauses steht, keinen Schornstein hat. Und der Ofen brennt immer, mit Holz.

Es ist dunkel hier, in diesem Raum. Das Ofenfeuer gibt etwas Licht, außerdem sind Kerzen aufgestellt.

An den Wänden stehen Betten, der Fußboden ist wirklich noch Boden. Erde, die festgetrampelt ist. Am Ofen stehen die Mutter und die Großmutter. Der Dorfälteste ist der Vater. Zwei Söhne und eine Tochter sind auch da und sitzen auf den Betten. Zwischen den Beinen der Familie scharren einige ziemlich zerrupfte Hühner und ein Hahn, der auch nicht viel besser aussieht, nach Essensresten. Der Familienhund und die Katze verstehen sich offensichtlich einigermaßen, ignorieren sich aber in gegenseitiger Abneigung. Nur das Hausschwein bleibt draußen angebunden – ist wohl nicht stubenrein.

Ich bekomme einen Becher mit süßem Kaffee, ein paar frisch gebackene Tortillas und eine Fünf-Minuten-Terrine zum Abendessen. Die Familie isst allerdings nicht mit. Sie schaut mir zu und fängt an, mir Fragen zu stellen. Der eine Junge übersetzt fleißig hin und her. Wo ich herkomme, warum ich hier sei, wieviele Kinder ich hätte, wo meine Frau sei. Das sind die Standardfragen, die hier in Mittelamerika immer als erstes gestellt werden.

Während ich esse, beantworte ich geduldig die Fragen und stelle selber welche. So erfahre ich, dass es in diesem Dorf keinen Strom und auch kein fließendes Wasser gibt. Das Nachbardorf ist zwar versorgt, aber die Leitungen und Rohre hierher würden rund 50.000 Dollar kosten und das müssten die Dorfbewohner selbst finanzieren. Die Beamten in Cahabón seien knallhart, Geld von der Regierung gibt es nicht.

Die Leute hier haben aber kein Geld, müssen zusehen, dass sie ihre Familien ernährt kriegen. Die Dorfbewohner, die Arbeit haben, arbeiten in der Mine. Jeden Morgen um fünf kommt ein kleiner Bus und holt die Leute zur Arbeit ab. Wieder zurück sind sie dann gegen sieben Uhr abends. Sechs Tage die Woche. Perspektiven? Keine. Es herrscht zwar Schulpflicht in Guatemala, aber nach der Schule gibt es keine Arbeit. Ich las ein Schild auf dem Weg hier hoch: “Wir arbeiten jeden Tag, haben aber keine Arbeit!”

Gegen acht verabschiede ich mich dann und möchte wissen, was “Adios” auf Kekchí, der Sprache dieser Region, heißt. Das ist nicht ganz so einfach, da es nicht einfach nur “Adios” heißt sondern irgendwas mit Geistern, Sternen und Nacht. Und dann kommt die Phonetik dazu. Die Laute kommen aus der Kehle, dem Zwerchfell und zischen, singen und knacken innerhalb der Worte. Ich versuche es aufrichtig mehrere Male, aber selbst ein ordinäres Wort wie “Bett” kriege ich nicht ausgesprochen.

Ich glaube, dass ich gerade zur Belustigung der Anwesenden beitrage und frage gar nicht erst nach, was ich da eigentlich gerade gesagt habe.

Mein Zelt steht noch und ist auch wieder allein. Ich putze mir noch die Zähne, krabbel schnell rein, säubere mich mit ein paar Feuchttüchern und verkrieche mich schnell in meinen Schlafsack. Es ist sogar endlich mal kühl des nachts.

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#1118908 - 06.04.15 10:28 Re: Centroamérica en bicicleta [Re: joeyyy]
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Freitag, 6.2.2015: Von einer Passhöhe auf 1.000 hm über Utopia nach Cahabón



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Die Nacht ist laut und nass, der Wind peitscht Regen ans Zelt. Ich konnte am Abend weder duschen noch mich waschen, immer war jemand da.

Etwas ist besonders bei den Mayas: Einer sieht dich immer – auch unterwegs. Der ruft oder pfeift kurz, dann sehen dich alle. Vor allem die Kinder. Ich kriege so langsam ein Gefühl für das Besondere dieser alten Kultur. Nach Chichen Itza und Tikal und auch meinen Begegnungen hier macht sich in mir der Gedanke breit, dass sie auf eine besondere Weise weniger Individuen sind sondern eher Wissens-, Glaubens-, Wohn- und Handelnsgemeinschaft.

Das deutete auch John im Hotel Kangaroo an, der ja mit einer Guatemaltekin liiert ist. Wenn in ihrer Familie etwas passiert, passiert das gleichzeitig mit allen. Und hier, im Urwald, habe ich das Gefühl, dass das auf die komplette Gruppe, über die Familien hinaus, ausgeweitet ist.

Am Morgen gegen vier kommen die ersten Collectivos, um die Arbeiter in die Mine zu bringen. Ich schlafe auf dem zentralen Platz, der auch gleichzeitig Treffpunkt für die Arbeiter ist. Sie sehen das Zelt, leuchten es an und reden darüber. Nachdem die ersten weg sind, kommen um fünf die nächsten. Das geht bis sieben, dann kommen die Kinder wieder.

Um halb acht stehe ich auf, packe zusammen und gehe rüber zum Dorfältesten, der mich am Abend noch zum Frühstück eingeladen hatte. Ich bin die Attraktion hier, kann nicht mal unbeobachtet pinkeln. Und das bei absolutem Schietwetter. Der Wind ist so stark, dass das Dach des Platzes nutzlos ist, der Regen kommt von der Seite.

Ich esse zum Frühstück den gleichen 5-Minuten-Nudeltopf mit Tortillas wie gestern abend. Und es gibt wieder einen lauwarmen Zuckerkaffee. Ich freue mich mit den Leuten, dass sie mir überhaupt etwas anbieten können.

Und wieder sind alle hier versammelt. Ich frage, ob ich etwas Geld für die Stromleitung da lassen kann und gebe dem Sohn 50 Quetzales, das sind rund sechs Euro.

Der Abschied ist herzlich, ich gebe allen die Hand und versuche, auf Kekchí “Adios” zu sagen. Ich hab’s schon wieder vergessen, der Begriff war viel zu lang und außerdem kann ich ihn sowieso nicht aussprechen. Wir lachen nochmal, dann fahre ich.

Ich muss noch ein paar Höhenmeter hoch, dann geht’s bergab. Die Piste ist so schlecht und der Lehmboden so glitschig, dass ich auch bergab schiebe. Die Regenmontur, die ich anhabe, ist schon bei der nächsten Hochschiebepassage unangenehm warm. Also packe ich das nasse Regenzeug auf die Packtaschen und schiebe weiter. Es ist so warm, dass der Regen nichts ausmacht. Die Leute hier laufen auch einfach so ohne Schutz herum.

Endlich habe ich die ganzen Laster hinter mir gelassen, ich habe immer wieder ganz lange Ruhe, bevor dann doch ein kleiner kommt, oder ein Moped oder ein Collectivo – das sind die Kleinbusse hier, die alle Leute aufpicken und wieder rauslassen, die das wollen.

Der Preis, den ich für meine Ruhe zahle, ist hoch. Es geht dauernd hoch und runter. Hochschieben, runterschieben. Und viele Passagen sind dabei so steil, dass meine Schuhe keinen Grip aufbauen und ich nur in Trippelschritten hochkomme. Und wenn der Grip da ist, dann zähle ich zehn Doppelschritte und mache dann eine Pause von fünf Atemzügen. So komme ich zwar langsam hoch, aber ich komme hoch. Und der matschige Lehm klebt alles fest. Vor allem setzt sich zwischen Schutzblech vorn und Reifen immer wieder alles zu.

Beim Bergabfahren klappert und scheppert dann die ganze Fuhre, so dass ich fürchte, die Packtaschen würden irgendwann abfallen. Sie halten aber. Dafür löst sich eine Schraube eines Flaschenhalters, was ich zum Glück rechtzeitig bemerke. Aber ich schaue alle paarhundert Meter, ob noch alles am Rad ist und rüttel mit den Händen an allen Anbauteilen, um zu prüfen, ob noch alles fest ist. Und schau an, den Ständer muss ich auch gleich nochmal festschrauben.

Hier im Hinterland spricht kaum jemand mehr spanisch. Meine Fragen nach dem Weg werden immer wieder mit Achselzucken beantwortet. Dafür kichern die Frauen häufig, wenn sie mich sehen. Die Kinder rufen “Gringo!” hinter mir her. Ich weiß nicht immer, ob das nun ein Schimpfwort ist oder eine Neckerei. Ich antworte meistens im gleichen Tonfall mit “Chico!”.

Die kleinen Läden hier haben vor allem extrem süße Getränke und salzige Chips in allen Variationen. Vor einem allerdings entdecke ich Bananen und kaufe gleich mal drei Stück, da ich Hunger habe. Ich frage den Besitzer nach einem Comedor, einer kleinen Küche, die es hier überall gibt und die ganz gutes Essen verkaufen. Er fragt, ob ich auch mit ihm und seiner Familie essen würde, was ich bejahe. Es ist wieder wie bei meinen letzten Gastgebern gestern abend und heute morgen: In der Hütte laufen Hühner rum, ein Hund schläft auf dem Boden und die Frauen und Kinder stehen am Herd. Der ist aus Stein und qualmt den Holzruß in die Luft. Alle leben hier den Tag über mit den Tieren. Der Fußboden ist die Erde, auf der die Hütte steht. Fließendes Wasser gibt es auch hier nicht, dafür große Krüge mit Wasser. Wenn ein Topf gewaschen ist, wird das Dreckwasser einfach auf den Boden gekippt. Es versickert halt. Ich frage nach der Müllabfuhr. Die gibt es hier in den Bergen nicht. Die Dorfbewohner verabreden sich unregelmäßig, bringen all ihren Müll zusammen und verbrennen ihn einfach. Organischer Müll landet direkt ohne Kompostierung in den Flüssen oder auf den Feldern.

Ich frage mich in solchen Situationen, ob wir es uns erlauben dürfen, mit den Fingern auf die anderen zu zeigen. Natürlich ist es falsch, die Umwelt über Gebühr zu belasten, aber was haben wir denn vor tausend Jahren und spätestens seit der industriellen Revolution gemacht? Ich werde wieder erinnert: Wir schimpfen auf Guatemala. Aber wofür wird, bitteschön, Nickel verwendet? Wo landet dieses Metall am Ende? In “unseren” Autos, Waschmaschinen, in unserem Konsum. Und dann auf afrikanischen Müllhalden. Den zerstörerischen Beginn und das dreckige Ende unserer Konsumkette blenden wir aus. Also dürfen wir solange nicht urteilen, bis wir selbst anfangen aufzuhören. Aufhören mit dem Konsumwahn, mit dem schneller, höher, weiter. Aber das ist Utopia. Und Utopia hat noch nie funktioniert.

Warum eigentlich nicht, und was funktioniert denn dann – verdammt nochmal? Alles, was ich bisher über Utopia gelesen oder gehört habe, basiert auf dem perfekten Menschen. Und irgendwann merkt der Utopianer, dass es zu viele nicht perfekte Menschen gibt, die aber auch in Utopia leben. Also schmeißt der Utopianer diese raus oder versucht, sie umzuerziehen oder gleich ganz zu töten – im Sinne des großen Ganzen. Und damit zerstört der Utopianer sein Utopia. Die Weltgeschichte gibt uns unzählige Beispiele. Nicht-Utopia tötet zwar auch, aber ohne Schuldzuweisungsmöglichkeiten.

Worauf können wir Menschen denn dann noch bauen, wenn wir nicht mal auf uns selbst bauen können?

Der Versuch einer Antwort – inspiriert vom guatemaltekischen Bergland: Hmm, vorausgesetzt, die Physiker haben Recht: Dann hat es rund fünfzehn Milliarden Jahre vom Urknall bis jetzt gedauert. Davon gibt es den Menschen – sagen wir: 150 Tausend Jahre. Das ist besser zu rechnen und sind überschlagene Nullkommanulleins Promille Menschzeit in der Raumzeit. Ich glaube nicht, dass sich diese Zahl signifikant erhöhen wird, bis der Mensch der Natur und dem Rest des Universums wieder Platz macht. Fatal? Klar. Hoffnungslos? Nein. Schließlich macht Denken Spaß und es gibt ein gutes Gefühl, zumindest eine Ahnung von einem möglichen Utopia zu haben. Und das wird kommen. Ohne uns. Vielleicht ist es das Paradies? Wer wirklich die Hoffnung für sich und die Menschheit behalten will, muss die rationale Hoffnung durch eine spirituelle ersetzen.

Um drei erreiche ich nach knapp 30 Kilometern Tagesetappe ziemlich ausgelaugt Cahabón, eine alte Kolonialstadt mit einer mächtigen katholischen Kirche, mitten in den Bergen. Eigentlich will ich heute noch nach Semuc Champey, aber das schminke ich mir ab, da das Höhenprofil dorthin nicht so ganz zu meiner derzeitigen körperlichen Verfassung passt. Ich baue mein Zelt im Garten eines alten Hotels auf, wo ich endlich duschen kann.

Das Betreiberpaar ist sehr nett. Das Hotel ist ausgebucht, ich bekomme aber den Platz, ein Abendessen und ein Frühstück. Über den Preis reden wir dann… genau: Mañana!

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Fortsetzung folgt...
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#1121149 - 13.04.15 21:20 Re: Centroamérica en bicicleta [Re: joeyyy]
joeyyy
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Ich mach's mal kurz heute: Samstag, 7.2.2015: Von Cahabón nach Lanquin

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#1121750 - 15.04.15 21:48 Re: Centroamérica en bicicleta [Re: joeyyy]
joeyyy
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...und könnte noch ein weilchen Dauern, der komplette Bericht. Hier gehts erstmal weiter:

Sonntag, 8.2.2015: Mit den Touris in Semuc Champey



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Fortsetzung folgt.
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#1122529 - 18.04.15 22:26 Re: Centroamérica en bicicleta [Re: joeyyy]
joeyyy
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#1122563 - 19.04.15 11:18 Re: Centroamérica en bicicleta [Re: joeyyy]
Mooney
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Deine Beiträge gehören immer wieder zu den Höhepunkten der Berichterstattung. Vielen Dank!

Wolfgang
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#1125024 - 27.04.15 17:24 Re: Centroamérica en bicicleta [Re: Mooney]
philipp_k
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Vielen Dank für den tollen und langen Bericht und dass du dir die Mühe machst so vieles so genau zu beschreiben. Ich schwelge gerade in Erinnerungen, da ich von 2004 auf 05 für ein halbes Jahr als Rucksäckler dort auf einer ähnlichen Route unterwegs war. Die Bilder vom gerodeten Regenwald beschäftigen mich bis heute. Ebenso die krassen Monokulturen in Honduras. Seither habe ich keine konventionellen Bananen mehr gegessen. Mein Lieblingsort war Lago Attitlan - scheinbar warst du da nicht. Wie dir hat mir auch Guatemala am besten gefallen, auch wenn mich ebenfalls die gesamte Reise Horrornachrichten von überfallenen Bussen begleitet haben. Gerne würde ich mal wieder zurück, kann mir aber vorstellen, dass sich die Umweltsituation in den letzten 10 Jahren noch rapide verschlechtert hat. Leider war ich damals auch auf einem dermaßen Lowbudgettrip unterwegs, dass ich das Angebot mit den Cennotes nicht wahrgenommen habe. Sicher auch ein Highlight in der Gegend. Bin mal gespannt von welchen Orten du noch so schilderst, die ich ebenfalls bereist habe.

Ach und wenn es nicht Guatemala wird, dann kommste halt doch nach Freiburg ;-)

Grüße
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#1131860 - 25.05.15 18:52 Re: Centroamérica en bicicleta [Re: joeyyy]
joeyyy
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Weiter geht's: Mittwoch, 11.2.2015: Vom Lago de Güija nach Ahuachapán

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Fortsetzung folgt.
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#1138401 - 21.06.15 10:02 Re: Centroamérica en bicicleta [Re: joeyyy]
joeyyy
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#1138628 - 22.06.15 07:29 Re: Centroamérica en bicicleta [Re: joeyyy]
linnertrekk
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Dein Bericht gefällt mir, auch wegen der vielen tollen Bilder. Weiter so!
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#1142061 - 08.07.15 08:27 Re: Centroamérica en bicicleta [Re: joeyyy]
joeyyy
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Freitag, Samstag, 13./14. Februar 2015: Costa de Bálsamo bis Zacatecoluca und in die grüne Schildkröte

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Warm ist es nachts im Zelt. Der Fels ist von der Sonne aufgeheizt und gibt diese Wärme gerade wieder ab. Außerdem fahren die Laster hier die ganze Nacht durch, so dass ich schlecht schlafe.

Na ja, meist ist es so, dass ich dann zwar nachts nicht ganz so tief schlafe, aber frühmorgens nochmal so richtig weg bin. Dann drehe ich mich auf den Bauch, zupfe mir mein Seiden-Inlett auf der Isomatte zurecht, schmeichel mich mit meiner Wange dran und falle wunderbar tief in den letzten Schlaf der Nacht – schon in der Vorfreude auf den kommenden Tag.

Meistens ist die Freude auch gerechtfertigt, so auch heute.

Ich frühstücke – wie verabredet – wieder im Comedor. Esekiel ist schon da und bedient einen Tisch mit guatemaltekischen Lastwagenfahrern. Ich setze mich zu ihnen, um ein wenig über das Leben der Trucker in Mittelamerika zu erfahren.

Die Jungs sind total nett, ich werde ausgefragt über meine Ziele, meine Familie und bis hin zur letzten Schraube meines Fahrrads. Somit kriege ich von deren Leben gar nicht so viel mit.

Am Ende ist es ein herzlicher Abschied: Der Chef des Comedor fühlt sich sehr geehrt, umarmt mich. Ich bin sehr überrascht, freue mich und lasse noch ein ordentliches Trinkgeld für Esekiel da.

Jetzt geht’s erstmal wieder weg von der Küste, in die Hügel der Costa de Bálsamo. Anstrengend ist es, und schön. Die Landschaft ist grandios, der Pazifik, den ich immer wieder sehe, strahlt eine ruhige Kraft aus, eine Kraft, deren Gewalt sich erahnen lässt.

Die Menschen sortieren sich ja gerne ein. Der eine Hamburger ist ein Alster-Hamburger, der andere ein Elbe-Hamburger. Der eine Berliner ist ein Wessi, der andere ein Ossi. Ich bin ein Pazifik-Möger, im Gegensatz zu den Atlantik-Mögern. Gut, der Atlantik bietet die Karibik. Aber ich halte den Pazifik für ruhiger, für gelassener, für kraftvoller und mächtiger als den Atlantik. Ich mag ruhige Kraft. Ich mag Leute und Sachen, die nicht angeben. Ich mag Leute und Sachen, die nicht launisch sind. Und der Pazifik ist weniger launisch als der Atlantik.

Heiß, es ist heiß. Es ist heiß und einer dieser heißen Tage, an denen ich eine übergroße Lust auf kalte Cola habe. Ich komme an einem Kiosk vorbei und kaufe mir eine kalte Cola. Das mache ich allerdings nur, wenn sie die heimischen Colas haben. Die heißen dann Tu-Cola oder Big Cola oder irgendwie anders. Kein Geld nach Atlanta, was nicht hierbleiben könnte. Außerdem sind mir noch die Human-Rights-Watch-Bilder der Kinderarbeiter auf den Zuckerplantagen El Salvadors im Kopf. Coca-Cola wurde damals als Killer-Coke angeprangert. Mittlerweile werden die sich wieder ein wenig grün gewaschen haben, aber die vielen Grundübel, die von dem US-Multi ausgehen, bleiben.

Ich sehe, dass der Kiosk gleichzeitig ein Friseurladen ist und spüre im Geiste kaltes Wasser über meinen Kopf fließen. Die Friseurin bittet mich in ihren Laden und freut sich auf die allerersten blonden Haare, die sie schneiden darf. Ich winke gleich ab: Einfach nur mit der Maschine oder Abstandhalter rüber. Kahl rasieren, das soll sie mich. Auf dem Kopf. Und den Urwald an Kinn und Wangen zurechtstutzen.

Ich genieße die Behandlung. Zum ersten Mal seit 1999 oder so sitze ich wieder mal auf einem Friseurstuhl. Seither rasiere ich mir den Kopf immer selber. Und zum ersten Mal lasse ich mir mit einem Rasiermesser den Bart stutzen. So ein Messer, mit dem die Handlanger der Mafia den Handlangern der Justiz gerne mal die Kehle durchschneiden. Ich bin in El Salvador und hier gibt es eine Mafia. Ich gebe mich der Auslieferung hin und stelle mir vor, in Palermo als kleiner Dealer im Salon von Don Corleone rasiert zu werden.

Meine Mafia-Patin schäumt meinen Bart ein und schärft das Messer auf klassische Weise an einem Ledergürtel.

Diese Plastikschürze, die die Friseure einem immer umwerfen, klebt an meinen verschwitzten und schweißgesalzenen Armen, ein ekliges Gefühl. Jetzt, wo ich jeden Luftzug als Erfrischung nehmen würde, staut diese Folie meine eigene Hitze unter sich und um mich.

Aber ich vergesse dieses Gefühl, da ich meinen Kopf jetzt nach hinten lege und kühles Wasser über Stirn und Schläfen an den Ohren vorbei über den Hinterkopf rinnt. Herrlich.

Nach einer halben Stunde ist diese Wellness-Behandlung vorbei und ich kann erstmals die Leute verstehen, die gerne in diese Wohlfühltempel gehen, um sich berühren und verwöhnen zu lassen. Ich zahle eineinhalb Dollar und nehme mir vor, meine Freundin mit Wasser zu massieren, wenn ich wieder nach Hause komme. Wellness im Fitness-Studio? Alles schön. Aber wie schön ist es, das von einem Menschen zu erhalten, den man liebt? Haben die Wellness-Fans niemanden zuhause, der das kann?

Nach neunzig anstrengenden Kilometern komme ich in Zacatecoluca an, einer größeren Provinzhauptstadt. Gleich hinter dem Ortseingang finde ich ein Hotel, das damit wirbt, 24 Stunden am Tag geöffnet zu haben. Ich frage nach einem freien Zimmer und zahle acht Dollar für die Nacht. Die kalte Dusche ist herrlich: Wellness, Teil zwei für heute.

Auf Wellness, Teil drei verzichte ich dankend. Ich wohne in einem Stundenhotel, in dem man mich normalerweise mit weiblicher Begleitung erwarten würde. Da ich die nicht habe, bietet mir der Mann an der Rezeption eine Gelegenheit, das auszugleichen. Gegen Geld, versteht sich. Ich lehne dankend ab und kaufe mir dafür eine kühle Flasche Pilsener.

Am Ende ist es in Ordnung. Ich kann meine Wäsche waschen und werde heute nacht von einem Rent-a-Cop bewacht. Mit Gewehr im Anschlag mal wieder.

Ich schlafe gut, auch wenn nachts immer mal wieder irgendwelche Gestalten an meinem Fenster vorbei huschen.

Frühstück gibt es hier – wie in den meisten Hotels – keins. Also mache ich mich fertig und fahre durch die Stadt. In einem Supermarkt hole ich mir Bananen, Kuchen und einen Kaffee. Mein Rad lasse ich einfach unbewacht draußen stehen. Das mache ich immer so. Selbst hier, in El Salvador, ist das kein Problem. Draußen schaue ich auf die Karte. Ich will in die Tortuga Verde, die grüne Schildkröte. Das ist ein Hostel, das im Reiseführer als Top-Spot angepriesen wird. Auch deren Internetseite verspricht langsames Leben und einfache Dinge, die einen sauberen und grünen Lebensstil in Harmonie mit grünen Schildkröten und anderen Meerestieren ermöglichen. Na, das ist doch mal was.

Allerdings sagen Straßenkarte in der Lenkertasche und Sonne am Himmel rund 120 heiße Kilometer voraus.

Ich suche nach einer Bus-Station, um vielleicht mit dem Bus nach Usulutan zu fahren und ein wenig abzukürzen. Aber hier in Zacatecoluca verstehe ich das Bus-System nicht. Es gibt mehrere Gesellschaften, die die Routen unter sich aufgeteilt haben. Ich finde heraus: Einen Bus nach Usulutan gibt es nicht. Nur nach Santa Ana. Da war ich aber schon. Ich könnte nach San Miguel fahren, über Apastepeque. Da will ich aber nicht hin. Und natürlich nach San Salvador. Da will ich erst recht nicht hin, außerdem liegt das hinter mir und nicht vor mir. Und außerdem nehmen die Busse hier keine Fahrräder mit.

Ich setze mich auf mein Rad, pfeife auf die 120 heißen Kilometer und fahre einfach mal los. Richtung Usulutan. Würde ich gerne. Also frage ich einige Leute nach dem Weg. Einige? Ja, einige. Wenn ich hier irgendwen nach dem Weg frage, sagen sie immer “Alla, alla, recto!” (frei übersetzt: “Da so", mit einer winkenden Handbewegung, die so ausgeführt wird, dass alle Himmelsrichtungen gemeint und richtig sein könnten. “Este calle?” frage ich dann mit einem ausgestreckten Zeigefinger in irgendeine Richtung und hoffe auf ein binäres “Si” oder “No”. Meistens ist das Fehlanzeige. “Alla, alla, recto!” heißt es. Dann schalte ich mein GPS ein.

Der Vulkan begleitet mich. Den ganzen Tag. Volcan de San Miguel. Majestät mit Krone, Orientierung für mich. Seine Erscheinung ist meine Richtung. Ich wundere mich über die Spiritualität meiner Gedanken. Die Menschen, die hier vor hunderten und tausenden von Jahren lebten, lebten mit den Meeren, den Wäldern und den Vulkanen. Diese Berge mit ihrer heißen Glut hatten besondere Bedeutungen für ihre Anwohner. Erhaben, bedrohlich, zumeist friedlich, manchmal mit einer Macht vernichtend, die unergründbar, unermesslich, unverstehbar war und immer noch ist. Also lasse ich mich vom Volcan leiten.

Und vertraue auf seine wohlmeinende Sicht auf mich.

Den ganzen Tag versuche ich, eine Mitnahmegelegenheit zu finden. Manchmal stelle ich mich an die Straße, wenn da schon andere stehen und auf den Bus warten, nur um festzustellen, dass dieser große Bus rappelvoll ist und mein Fahrrad auch nicht mitnimmt. Manchmal halte ich den Daumen raus, wenn ein Pick-Up vorbeikommt, nur um festzustellen, dass die Leute keine Lust haben, andere Leute mit Fahrrad mitzunehmen. Einer hält an und sagt, dass er mich gerne mitnehmen würde, aber es nicht darf, da er ein offizielles Auto der Regierung fährt.

Ich weiß nicht, was das Thermometer sagt. Viel, glaube ich. Weit über dreißig Grad. Die Leute in Zacatecoluca sagten, dass das hier der Hitzegürtel Zentralamerikas sei. Ich glaube ihnen. Und ich fahre erstmals trocken. Kein Wasser mehr an Bord und keine Ahnung, wie weit es bis zum nächsten Ort oder Kiosk ist. Mein Durst meldet sich und in einem dieser lang gezogenen Orte an der Straße frage ich eine Frau, wo ich das nächste Wasser bekommen könnte. Sie sagt, sie könne meine Flaschen mit ihrem Wasser füllen, sie hätte gerade frisches geliefert bekommen. Ich nehme das Angebot gerne an, zahle einen Dollar und fahre weiter.

Kurz darauf erreiche ich ein Kiosk, kaufe mir ausreichend Wasser für mich und meine Flaschen und lasse mir eine frische Ananas aufschneiden. Ich muss heute so ungefähr schon sechs Liter Wasser und Cola getrunken haben und war noch nicht einmal pinkeln unterwegs. Die Sonne zieht mir die Flüssigkeit aus der Haut, ohne dass ich schweißnass wäre. Zum Glück macht mir das nicht viel aus.

Noch rund zehn Kilometer bis zur Tortuga Verde. Selbst jetzt, am späten Nachmittag, kennt die Hitze keine Gnade. Und die Landschaft auch nicht. Es geht bergauf. Ich schiebe. Ich schiebe hoch, rolle kurz runter und schiebe wieder hoch. Pausenlos. Dann kommt ein hoher Hügel. Ich schiebe. Ein Pickup überholt mich und hält vor mir. Ich bin zu sonnensediert, um mir irgendwelche Sorgen oder Hoffnungen zu machen. Ein Salvadorianer steigt aus und empfiehlt mir, mit ihm über diesen Hügel zu fahren. Er fährt nach El Cuco, also ganz in die Nähe der grünen Schildkröte. Ich weiß gar nicht mehr, ob ich mitfahren will oder selber fahren will oder einfach nur hier stehen bleiben will. Das scheint er zu merken und klappt die Heckklappe seines Autos runter. Gemeinsam heben wir mein Rad mitsamt Gepäck auf die Ladefläche, steigen in die Fahrerkabine und fahren los.

So langsam begreife ich das Ganze und bedanke mich erstmal richtig. El Salvador habe sich in den letzten Jahren gemacht, sagt Jorge, mein Namensvetter aus El Cuco. Er spricht Englisch mit mir, hat zwanzig Jahre in Maryland, USA, gelebt. Dort sei es ihm jetzt zu gefährlich, sagt er. Als Nicht-Weißer könntest Du Dir nicht mehr sicher sein in manchen Gegenden der Staaten. Und das sagt einer, der dann nach El Salvador zieht. Weil es dort sicherer scheint als in USA! Na das ist doch mal eine verkehrte Welt. Ich denke ein wenig nach und kann nachvollziehen, dass aus Jorges Sicht das durchaus ernst gemeint ist.

Kurz vor El Cuco lässt Jorge mich dann raus und ich fahre locker bergab zur Tortuga, meiner Hoffnung, meiner Tagesinspiration, meinem Ziel!

Eine übergroße Flagge El Salvadors erwartet mich am Eingang zur Hostel-Anlage und mit ihr auch der Stolz eines geschundenen und ausgebeuteten Landes. Und Tom, ein freundlicher Amerikaner mit dem Esprit der 70er Jahre, der dieses kleine Paradies hier direkt am Pazifik-Strand aufgebaut hat.

Mein Zimmer teile ich mir mit Jean, einem Franzosen mitte dreißig, der zu Fuß und per Bus durch Mittelamerika reist. Er ist ein sympathischer Zeitgenosse, ruhig und ein wenig traurig wirkend. Er mag heute nicht viel reden, wir verschieben das Kennenlernen auf morgen früh beim Frühstück.

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Mehr Bilder gibt es hier (klick)

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Fortsetzung folgt.

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#1143933 - 15.07.15 21:23 Re: Centroamérica en bicicleta [Re: joeyyy]
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Sonntag, 15.2.2015: Ruhe für den Körper, Tumulte für die Gefühle

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Noch vor dem Frühstück gehe ich zum Strand. Schwimme das erste Mal in meinem Leben im Pazifik. Kraft pur. Das, was ich gestern schon gesehen und geahnt habe, kann ich jetzt mit meinem Körper fühlen.

Als Triathlet und Ironman kann ich gut schwimmen und bin auch schon Wettkämpfe mit knapp vier Kilometern im Meer geschwommen. Nie hatte ich mir Gedanken gemacht über Strömungen, Wellen, Salzwasser. Viel gehört hatte ich schon von Leuten, denen vom Wellengang beim Schwimmen schwindlig oder schlecht wurde. Oder beides. Ich kenne das nicht.

Aber ich bin bisher auch noch nicht im Pazifik geschwommen. Hier ist ein Surferparadies. Das heißt, dass die Wellen schon recht ordentlich und kraftvoll sind. Und so gehe ich voller Respekt ins Wasser. Am Strand sind die Wellen eher klein und unscheinbar. Das ändert sich nach rund fünfzig Metern im Wasser. Jetzt werde ich zum Treibholz. Ich gehe mit den Wellen hoch und runter, schwimme den Stellen entgegen, wo sich die Wellen brechen. Die erste Welle kommt auf mich zu, die sich wahrscheinlich genau über mir überschlagen wird. Ich tauche ab. Ich höre erst das normale Gluckern, dann ein Rauschen und dann ist Ruhe. Über mir wurde es dunkel, jetzt ist es wieder hell. Ich tauche wieder auf. Wie gerne würde ich surfen und mit diesen Wellen spielen können. Die nächste Welle kommt, ich versuche, mich steif zu machen und einfach nur mit meinem Körper auf ihr zu surfen. Kläglich, der erste Versuch. Die Gischt zieht mir fast die Badehose aus. Auch der zweite und der dritte Versuch enden ähnlich. Ich versehe mich wieder auf’s Drunterdurchtauchen.

Nach einer halben Stunde lasse ich mich mit den Wellen wieder zum Strand treiben und gehe in mein Zimmer, um zu duschen. Jean, mein französischer Zimmergenosse, ist mittlerweile auch wach und wir gehen gemeinsam zum Frühstücken. Jean spricht nur wenig englisch, dafür allerdings sehr gut spanisch. Ich verstehe sehr gut spanisch und spreche sehr gut englisch. Wir einigen uns auf spanisch als Hauptsprache und ich darf hin und wieder ins Englische wechseln, wenn ich auf spanisch nicht weiterkomme. Das funktioniert gut.



Jean kommt aus Lyon und ist seit Weihnachten in Zentralamerika unterwegs. Allein, wie ich.

Seine Freundin, mit der er seit drei Jahren zusammenlebt, hat ihm gestern per Mail geschrieben, dass sie keine Perspektive mehr für eine gemeinsame Zukunft sieht und die Beziehung somit beendet. Jetzt ist mir auch klar, warum er so traurig und wortkarg ist. Und jetzt sitzt er hier mit einem Deutschen, der kein Wort französisch spricht und legt seine Gefühle auf spanisch offen. Ich weiß gar nicht wie ich reagieren soll, höre aber einfach mal zu.

Was ich verstehe, ist, dass es eine sogenannte Patchwork-Problematik ist. Jeans Freundin hat Kinder aus einer früheren Beziehung, Jean sieht sich nicht als Vater oder Vater-Ersatz. Sie fordert Entwicklung, er weiß gar nicht was damit gemeint ist. Sie fordert emotionale Resonanz, er weiß gar nicht was damit gemeint ist. Ich selbst kann mit diesen ganzen therapeutischen Begriffen sowieso nicht viel anfangen. Wenn eine Beziehung therapeutisch seziert wird, ist das meist der Anfang vom Ende.

Ich selbst kenne das mit diesen Patchwork-Beziehungen auch, bei mir hat es ebenfalls nicht funktioniert. Jean meint allerdings, dass das bei ihm gut funktionieren würde und dass diese Trennung absolut unnötig sei.

Dazu kann ich nicht viel sagen. Was mich aber wütend macht, ist die Tatsache, dass er mitten im Urlaub – aus heiterem Himmel – eine Mail erhält, die mit dutzenden verklärenden Worten irgendwelche Alibis auflistet. Ich finde so etwas feige. Ich bin für ehrliche Worte und für klare Trennungen, wenn es nicht mehr passt oder wenn die Gefühle weg sind. Aber per Mail über zehntausend Kilometer nach drei Jahren Beziehung? Und dann mit Begründungen, die der Gegenüber gar nicht versteht? Die auch noch suggerieren sollen, dass es an seiner mangelnden “Entwicklung” liegt? Klar – ich kenne die Beziehung nicht und auch Jeans Freundin nicht. Aber die Art und Weise dieser Trennung finde ich nicht in Ordnung.

Was Jean am meisten zu schaffen macht, ist die Tatsache, dass er hier keine Freunde hat, denen er sich anvertrauen kann, die ihn kennen und die mit ihm seinen Schmerz, seine Wut, seine Trauer teilen können. Das ist das Los des Weltenbummlers: Man lernt zwar überall tolle Menschen kennen, aber echte Freundschaften entwickeln sich daraus kaum. Die besten Freunde, die eigene Familie, die soziale Basis – alles ist zuhause, wo auch immer das ist. Ich weiß, dass ich Jean nie diese Rolle bieten kann. Er weiß das auch, fühlt sich aber dennoch erleichtert – allein dadurch, dass jemand zuhört und seine Gefühle und Gedanken nachvollziehen kann.

Das Leben meint es manchmal gut mit einem und manchmal nicht. Und Jeans Leben ist gerade nicht gut zu ihm. Aber er kommt am Ende klar, sagt er. Das erleichtert mich. Als Individualist, der er als Reisender nun mal ist, kann er immer wieder auf sich zurückfallen, sich immer wieder auf sich selbst und seine eigene emotionale Stabilität verlassen. Das kann ich nachvollziehen und von mir selbst auch so sagen.

Ich frage mich, wie ich in seiner Situation reagieren würde, was das mit mir machen würde. Ich weiß es nicht.

Manche Trennungen fielen mir leicht, manche schwer. Egal, ob von Frauen, Freunden, Jobs oder Möglichkeiten. Was haben sie letztlich gemacht? Mich stabiler. Und – komischerweise auch Lust auf mich selbst. Sie haben mir immer gezeigt, dass ich mich am Ende auf mich und mein Selbstwertgefühl verlassen kann. Bei aller Trauer oder aller Erleichterung war ich hinterher zwar immer allein, aber niemals einsam. Und habe immer eher die neuen Perspektiven für mich gesehen als die Verluste. Wer sagt denn, dass ein Glück immer ein Glück ist? Ein Unglück immer ein Unglück? Eine Trennung immer eine Trennung? Ein Anfang immer ein Anfang?

Ich versuche, Hermann Hesse auf englisch zu zitieren: “Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!”



Ich suche mir eine Hängematte im Schatten und genieße die Stimmung. In mir und um mich herum.

Menschen und Beziehungen. Ich glaube, es gibt nichts, was uns mehr beschäftigt als wir uns gegenseitig untereinander miteinander. Vor allem, wenn wir diese Dynamik aufbauen, die Beziehungen haben können. Dynamik heißt immer auch Energie. Diese kann einen hoch hinaus tragen und auch tief fallen lassen.

Alleine können wir nunmal nicht. Selbst der überzeugteste Globetrotter braucht Menschen, braucht den anderen, in dem er sich wiederfinden kann. Wer in eine Reise oder in die Wildnis flüchtet, kommt nicht weit. Weil er sich selbst ja immer dabei hat. Wer hingegen eine Reise oder die Wildnis sucht, um sich selbst zu deuten, hat gute Chancen, etwas Wertvolles zu finden.

Den ganzen Tag chille ich ab, wie meine Söhne sagen würden. Hier passt dieser Begriff ganz gut.

In der Tortuga-Cosmic-Cocina koche ich mir immer wieder mal einen Tee oder einen Kaffee, allesamt von Kooperativen aus Zentralamerika. Tom, der Gründer dieses Kleinods ist etwas jünger als ich und ein schwuler Amerikaner von der Westküste. Wir schwärmen von der Flowerpower-Zeit der Siebziger, die er als Kalifornier natürlich viel intensiver erlebt hat als ich. Tom lebt ein tolles Prinzip: Wenn junge Leute – egal aus welchen Teilen der Welt – hierher kommen und irgendwelche Fähigkeiten mitbringen, die hier irgendwie verwendet werden können, dann zahlt Tom Essen und Aufenthalt und lässt die Leute einfach machen. So hat die Tortuga einen Web-Auftritt durch einen jungen Kerl aus Maine, einen Kompost durch einen Wissenschaftler aus Kalifornien, eine Küche durch einen Mexikaner, der auch noch Yoga für die Gäste anbietet. Comunity at it’s best.

Tom erzählt auch von den Anfängen der Tortuga, kurz nach dem Ende des Bürgerkriegs. Was heute als Paradies durchgeht, war noch vor zehn Jahren ein einziger Improvisationskraftakt. Es gab nichts. Kein Geld, kein Material, kein Werkzeug, kaum Gäste. Aber es gab Idealismus, es gab Aufbruchstimmung. Und Nachbarn und Freunde. Das hat die Tortuga zu dem gemacht, was sie heute ist. Und Tom gibt viel von dem, was er von den El Salvadorianern bekommen hat, an sie zurück.

Am Abend, als alle Gäste weg sind, liege ich direkt am Strand in einer Hängematte und hänge meinen Gedanken nach. Sie kommen und gehen im Takt des Rauschens der Pazifikwellen. Ich schaue in den Sternenhimmel, sehe erstmals in meinem Leben einen Sternennebel. Ich erahne, warum unsere Galaxie Milchstraße heißt.

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Fortsetzung folgt.
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#1144039 - 16.07.15 11:40 Re: Centroamérica en bicicleta [Re: joeyyy]
Keine Ahnung
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Ein wirklich sehr schöner Bericht. Ich freue mich auf die Fortsetzung!
Gruß, Arnulf

"Ein Leben ohne Radfahren ist möglich, aber sinnlos" (frei nach Loriot)
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#1144050 - 16.07.15 12:07 Re: Centroamérica en bicicleta [Re: Keine Ahnung]
Dombybike
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Unterwegs in Deutschland

Echt toll geschriebene Berichte schmunzel Danke dafür, macht Spaß zu lesen!
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#1145785 - 25.07.15 23:17 Re: Centroamérica en bicicleta [Re: joeyyy]
joeyyy
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Besten Dank für's Lob, lese ich gern schmunzel
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#1145786 - 25.07.15 23:18 Re: Centroamérica en bicicleta [Re: joeyyy]
joeyyy
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Montag, 16.2.2015: Von El Cuco/El Salvador nach Choluteca/Honduras

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Großes Bild in Link umgewandelt!

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Jeans Situation beschäftigte mich noch eine ganze Weile in der Nacht – ich frage mich, wie es denn sein muss, wenn die Partnerin in der Beziehung keine Perspektive für sich sieht.

Was treibt uns denn nach vorn, wenn nicht die Perspektiven, die Erwartungen für und an die Zukunft? Ja, wenn in einer wichtigen und wesentlichen Situation für uns keine Perspektive erkennbar ist und sich das auf das gesamte Leben auswirkt, dann müssen wir uns wieder Perspektiven verschaffen. Oder wir werden depressiv oder verzweifelt oder fatalistisch.

Und da hat Hermann Hesse dann Recht (und meine Mutter auch): Ein Ende ist immer auch ein Anfang, etwas Neues mit neuer Perspektive.

Jean und ich umarmen uns zum Abschied. Er ist der erste Franzose, den ich kenne und der richtig sympathisch ist. Das sage ich ihm. Er weiß, wie ich das meine. Vielleicht sehen wir uns wieder in La Union oder in Nicaragua.

Ich bin im Brutkasten Zentralamerikas. Aus meiner Haut dringt höchstens noch das Mineralsalz, das ich eigentlich dringend brauche. Ablecken kann ich’s nicht, weil ich mich mit Sonnenschutz eingecremt habe. Wieder fahre ich von Kiosk zu Kiosk, von Wasserstation zu Wasserstation.

El Salvador ist ein stolzes Land. Seine Bewohner sind stolz auf ihr Land. Und sie wissen, dass der Frieden, den sie haben, noch sehr jung ist. “El respeto al derecho ajeno es la paz” steht auf einem Bordstein. Der Respekt vor dem Recht des anderen ist Frieden. Benito Suarez hat das als ehemaliger mexikanischer Präsident und Freiheitskämper mal gesagt. Und dann die Erschießung des einzigen Kaisers von Mexiko persönlich angeordnet und überwacht.

Mir stellt sich bei solchen “Helden” und “Kämpfern für die Freiheit” wie Suarez oder Che Guevara oder auch Obama immer wieder die Frage, wann es gerechtfertigt ist, Menschen wissentlich und absichtlich zu töten – noch perfider: Töten zu lassen – und das als legitim und sogar legal zu verkaufen. Ist das Mord? Nein, Mord verlangt ja einen niederen Beweggrund. Und die Freiheit ist natürlich kein niederer Beweggrund. Also: Wenn ich im Namen der Freiheit töte, ist es kein Mord. Es ist – aus Sicht der Tötenden – ja sogar legal. Also kann es dann auch kein Totschlag sein.

Ja, was ist Töten im Namen der Freiheit denn dann, wenn es legal ist? Dann muss es wohl Notwehr sein. Wenn ich jemanden töte, der die Freiheit bedroht, dann handele ich also aus Notwehr.

Bleibt die offene Frage: Wessen Freiheit und überhaupt: Was ist das, Freiheit? Ist dieser Begriff überhaupt für alle Menschen auf dieser Welt mit einer einzigen Definition greifbar zu machen? Wenn ja, dann weiß jeder Mensch auf dieser Welt, wann er töten darf. Und weil er sich nur im Namen der Freiheit wehrt, muss er nicht mit Strafe rechnen.

Suarez den Kaiser, Guevara die Anhänger von Batista, Obama den Anführer von Al Quaida. Alles Notwehr. Alles legal. Alles für die Freiheit.

War Mexico danach freier? Kuba? Die USA?

Ich glaube, die Sonne kocht gerade mein Hirn im Kopf.

In La Union will ich mit irgendeinem Boot nach Honduras. Im Hafen findet gerade ein Fest statt. Ich frage nach einer Fähre. Es gibt keine, ich soll die Jungs auf den Lanchas fragen. Die Fischer sagen das typische “mañana, quizas” – morgen, vielleicht. Damit fahre ich wieder raus aus La Union, nehme den Landweg in Richtung Grenze.

Die restliche Fahrt durch El Salvador bis Honduras ist eher unspektakulär. Ich bin bald auf der Panamericana, die erstaunlich ruhig ist: Kaum Verkehr.

An der Grenze in El Amatillo fallen die Geldhändler wie die Fliegen über mich her. Tauschen? Superkurs! Hast Du noch Quetzales? Tausche gegen Lempiras! Dollares? Kein Problem! Superkurs! Ich bleibe freundlich und wehre alle und alles ab. Passe auf, dass mir niemand zu nahe kommt.

Ein junger Mann mit irgendeiner Karte um den Hals kommt auf mich zu und überreicht mir ein Einreise-Formular, das ich auszufüllen habe. Er sei ein Grenzpolizist, das Formular koste zehn Dollar. Ich lasse mich auf nix ein und erwidere, dass ich erstmal die Formalitäten der Ausreise aus El Salvador klären müsse, bevor ich in Honduras einreise.

Und da habe ich tatsächlich ein kleines Problem am offiziellen Schalter. Ich bin bei der Einreise von Guatemala nach El Salvador wohl an der Einreisekontrolle vorbeigefahren, habe wohl vergessen, mir einen Stempel in meinen Pass drucken zu lassen.

Ich erscheine der Frau hinter der Scheibe aber offensichtlich harmlos. Sie fragt mich, wann ich ungefähr eingereist wäre, drückt mir zwei Stempel in den Pass und winkt mich durch. Ich gehe zum offiziellen Honduras-Einreise-Büro, zahle drei Dollar – honduranische Lempiras nehmen die gar nicht an – für den Stempel, nicht für das Formular, und fahre dann weiter. Mit Stempel, ohne Lempiras.

Es ist jetzt vier Uhr nachmittags, bis Choluteca, dem nächsten Ort mit Hotel, sind es noch rund 35 hügelige und heiße Kilometer, mein Hirn ist durchgegart und hier fahren permanent irgendwelche Busse nach Choluteca. Ich frage den Fahrer eines wartenden Chicken-Busses – so heißen die alten ehemaligen US-Schulbusse hier – ob ich mit meinem Fahrrad einsteigen könne. Kein Problem, anders als in Guatemala oder in El Salvador. Der Fahrer steigt aus, öffnet die hintere Tür und hilft mir beim Reinschieben des Rades.

Ich selbst setze mich weiter vorn hin, nah beim Fahrer.

So langsam füllt sich der Bus mit Einheimischen. Ein junger Mann setzt sich neben mich und beginnt ein Gespräch. Nach dem üblichen Wokommstduher, Wasmachstduhier, Wowillstduhin, Woistdeinefamilie frage ich nach dem Land Honduras und seinen Verhältnissen. Ich habe ungute Nachrichten gelesen über diesen Staat, der nach Haiti der zweitärmste in Mittelamerika ist und in dem mit San Pedro Sula die Stadt mit der wahrscheinlich höchsten Mordrate pro Einwohner liegt.

Mein Sitznachbar schämt sich für sein Land, in dem Polizei und Militär extrem korrupt sind. Er erzählt von einem zweijährigen Mädchen aus Choluteca, unserem Fahrtziel, dem von Polizisten die Kehle durchgeschnitten wurde, weil sein Vater kein Schutzgeld zahlen konnte. Ich kann das nicht nachprüfen, aber komplett verwerfen kann ich den Gedanken an solch grausame Taten auch nicht.

In Choluteca suche ich ein Hotel, möglichst nah an der Bushaltestelle. Es ist mitlerweile dunkel und da will ich mich nicht weiter in der Stadt aufhalten. Wie üblich, kriege ich nur vage Beschreibungen über die Richtungen, in die ich fahren sollte. Ich fahre einfach zur Hauptstraße und schaue rechts und links nach Schildern. Mein Hotel ist diesmal zwar kein Stundenhotel, aber ein Fahrerhotel. Hier übernachten LKW-Fahrer, denen es in ihren Kabinen zu gefährlich ist. Ich beziehe ein Zimmer, mein Fahrrad stelle ich in einem Abstellraum ab, das mir der Hotelmanager zeigt. “¡No hay problemas con ladrones!” sagt der Manager, kein Problem mit Dieben hier. Etwas besorgt gehe ich ins Zimmer. Vorher frage ich noch, ob ich hier im Hotel etwas essen kann. Hier nicht, aber nebenan gibt es einen Comedor, eine Küche, die warmes Essen anbietet.

Nach der kalten Dusche – herrlich – gehe ich dann rüber. Der Comedor ist abgeschlossen, ein großes Gitter ist davor. Ich gehe zurück ins Hotel. Der Manager fragt mich, ob ich doch keine Lust hätte. Doch, antworte ich, aber es sei eben geschlossen. Er kommt mit mir mit und ruft einen Namen durch das Gitter. Eine ältere Frau erscheint, sie fragt er, ob es noch Essen gäbe. “¡Claro que sí!”

Mir wird aufgeschlossen, ich gehe in die Küche und setze mich an den großen Küchentisch. Werde gar nicht gefragt, was ich denn essen wolle, da es sowieso nur ein einziges Gericht gibt. Warum, weiß ich nicht, aber ich fühle mich vom ersten Moment an als würde ich in der großen Küche meiner Großmutter sitzen. “Junge, setz Dich erstema hin, denn krisste au was zu essen, damitte groß un stark wirs!”

Ich frage, ob es ein Bier gibt oder eine Kola – Nein, nur Wasser. Ist gut. Kurze Zeit später kommt eine jüngere Frau – so um die dreißig – in die Küche. Sie fängt sofort an, mit ihrer Mutter zu quatschen, begrüßt mich dann aber auch ganz freundlich. Wir kommen schnell ins Gespräch.

Margarita ist politisch sehr engagiert und arbeitet für eine Organisation, die Frauen hilft, die Gewalt in der Familie erfahren. Insbesondere die Ehemänner, die arbeitslos und perspektivlos sind, lassen ihre Wut und Verzweiflung häufig an den schwächsten Familienmitgliedern aus. Gewalt gegen Frauen ist in Honduras an der Tagesordnung. Wenn Frauen verschwinden oder gar getötet werden, interessiert das hier niemanden. Die Kinder werden dann von einer der Großmütter aufgezogen, Fragen nicht gestellt.

Mein Essen kommt. Es gibt – wie üblich – Reis mit schwarzen Bohnen und Rindfleisch. Lecker, aber ich kann mich gar nicht auf das Essen konzentrieren, bin gefesselt von dem Gespräch mit Margarita.

Sie muss extrem vorsichtig sein bei dem, was sie erzählt und vor allem, wem sie das erzählt. Politischer Widerstand wird im Keim erstickt in Honduras. Nirgendwo in Zentralamerika ist die Ungleichheit größer als hier, sagt sie. Es gibt wohl fünf Familien hier, in deren Händen Geld und Land liegen. Diese Familien steuern das Militär und den Politikbetrieb. Das Militär ist hier noch gefährlicher als die Polizei. Die Polizisten sind insofern korrupt, als sie selbst hin und wieder als Verbrecher, Räuber, Entführer oder Handlanger der Drogenmafia agieren. Das Militär hingegen läuft nicht wegen der Verbrecher oder fremder Mächte durch die Straßen sondern um Umsturztendenzen sofort zu erkennen und zu unterdrücken. Am schlimmsten sind die Militärs ohne Uniform. Sie spionieren das Volk aus und schicken dann ihre Kollegen in Uniform mit Waffen, um “aufzuräumen”.

Das Leben in Honduras ist schwer. Die Preise rennen davon, selbst wenn Geld vorhanden ist, muss das nicht heißen, dass es dafür etwas zu kaufen gibt. Wer etwas verkaufen will, muss vermehrt Schutzgelder zahlen. An die Jugendbanden, die Maras. Hier in Choluteca machen sie sich auch langsam breit, importiert aus Tegucigalpa und San Pedro Sula, der Hochburg der Drogenmafia hier in Honduras – wenn nicht in ganz Zentralamerika. Das Volk wird ungeduldig.

Man bräuchte jemanden wie Merkel. Die ist berühmt hier. Deutschland kommt extrem gut weg – in allen Ländern, in denen ich bisher war. Es fällt mir schwer, von unserer eigenen Korruption zu berichten, die bei uns nicht Korruption heißt sondern Lobbyismus und eine noch viel perfidere Art von Manipulation und Vetternwirtschaft darstellt als die offene Korruption.

Meistens gelingt mir das dann doch anhand der Beispiele, die ich ja selbst kenne – schließlich arbeite ich in der Energiewirtschaft. Da gibt es einen ehemaligen Ministerpräsidenten, der plötzlich Vorstand bei einem großen Baukonzern ist. Da gibt es einen ehemaligen Bundeskanzler, der seine Verbindungen zu Putin nutzt, um in irgendwelchen Gremien und Vorständen russischer Energiefirmen zu sitzen, die er vorher bereits als Bundeskanzler “wohlwollend” begleitet hat. Da gibt es einen ehemaligen grünen Außenminister, der lukrative Pöstchen bei BMW und Siemens hat. Da gibt es einen ehemaligen Kanzleramtsminister, der jetzt Bahnvorstand ist. Das alles ist abstoßend, diese Menschen erniedrigen sich letztlich selbst und machen sich und ihre ehemalige Sache klein.

Aber im Gegensatz zum honduranischen Volk hungert das deutsche Volk nicht und akzeptiert diese Maschen klaglos. Ein sattes Volk rebelliert eben nicht.

So kann ich diesen bewundernden, durch die eigene Situation verklärten Blick auf mein eigenes Land immer mal wieder klären und die moralische Differenz, die die Menschen hier gegenüber uns Deutschen fühlen, etwas verkleinern. Ich halte das für angemessen und zeige damit, dass es auch in Deutschland Menschen gibt, die politisch denken und nicht immer alles abnicken, was die Regierung und die Medien ihnen hinwerfen.

Margarita und ich verabreden uns für halb acht morgen zum Frühstück.

In der Nacht beißt mich eine dieser großen roten Ameisen tatsächlich genau in den Sack. Das tut höllisch weh, ich schrecke aus dem Schlaf und bin erstmal hellwach. Der Schmerz verfliegt schnell, aber die Sorge um eine Invasion der Riesenameisen begleitet mich in einen unruhigen Restschlaf.

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Fortsetzung folgt.

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Geändert von Keine Ahnung (21.09.15 09:39)
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#1146694 - 30.07.15 06:13 Re: Centroamérica en bicicleta [Re: joeyyy]
joeyyy
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Dienstag und Mittwoch, 17./18.2.2015: Von Choluteca / Honduras über Chinandega / Nicaragua an die Laguna de Apoyo

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In der Nacht wache ich immer mal wieder durch irgend einen krähenden Hahn auf. Und die Angst vor weiteren Ameisenbissen macht die Nacht nicht ruhiger.

Gegen halb sieben stehe ich dann auch auf, das Leben hier findet schon seit rund einer Stunde statt. Es ist einfach nur heiß. Gestern schon den ganzen Tag, in der Nacht hat es sich kaum abgekühlt. Der Ventilator läuft die ganze Zeit auf höchster Stufe. Normalerweise dusche ich immer abends, aber an diesem Morgen verlangt mein Körper eine zusätzliche kühle Erfrischung.

Um halb acht gehe ich rüber in den Comedor, um ein Frühstück "con todo", also mit allem, zu bestellen. Nach rund 15 Minuten erhalte ich einen voll gepackten Teller mit einem Rinderschnitzel, einem Spiegelei, Bohnen, Reis, gebratenen Bananen und Tortillas. Dazu gibt es einen Riesenpott überzuckerten Kaffee. Da muss ich jetzt durch. Morgen früh esse ich Brot mit Marmelade!

Der Sohn der Inhaberin setzt sich zu mir und ist an meinem Fahrrad interessiert. Wie so viele Männer hier. Alle fragen immer bloß nach dem Preis. Dass man sein Auto verkaufen kann, um sich ein gutes Fahrrad zu kaufen, versteht hier niemand. Also sage ich immer, dass das Fahrrad ziemlich teuer ist, ich aber nicht weiß, was es momentan wert ist. Die genaue Preisangabe würde wohl zu großem Unverständnis führen. Lügen um des lieben Friedens Willen möchte ich aber auch nicht.

Ich will losfahren und merke, dass mein Leatherman fehlt, den ich in einer kleinen Ledertasche direkt am Fahrrad befestigt hatte. Das ist schlecht und beunruhigt mich, da er Teil meiner technischen Ausrüstung ist und ich die Werkzeuge häufig benötige. Außerdem hat er mich seit Alaska auf allen meinen Reisen begleitet und mir stets gute Dienste geleistet. Wahrscheinlich wurde das Teil gestern im Bus geklaut. Denn gestern Mittag habe ich damit noch eine Mango aufgeschnitten.

Ich fahre zu einer Ferreteria, einer Eisenwarenhandlung, die gleichzeitig auch ein Reparaturbetrieb für Motorräder ist. Erwarten tue ich allerdings nichts. Der Besitzer telefoniert gerade, ich warte ein paar Minuten und will gerade wieder wegfahren, als er das Telefon aus der Hand legt und mich fragt, was ich denn wolle. Ich frage nach einem "cuchillo por multi uso", einem Messer für vielfältigen Gebrauch, der Verkäufer geht in sein Büro und ich bin absolut erstaunt, als er mit einem Leatherman Wave zurückkommt. Ich frage, ob er dieses Werkzeug auch verkauft, er nickt kurz mit dem Kopf, nennt mir seinen Preis und ich sage ihm, dass er für mich heute das Glück sei. Wir diskutieren noch ein wenig über Länder und Diktaturen, er ist der erste Mensch hier in Lateinamerika, der mich auf Hitler anspricht. Wir sind beide der Meinung, dass es schwierig ist, als Teil der Bevölkerung eines Landes Verantwortung für das Handeln der Regierung des Landes zu übernehmen. Und dennoch kommt man als Bürger nicht darum herum.

Honduras ist das erste Land Zentralamerikas, dessen Bürger nicht stolz sind auf ihr Land, sondern es fürchten. Im Gespräch mit diesem Mann aus der Eisenwarenhandlung merke ich wieder, wie ohnmächtig sich die Bevölkerung den Militärs, der Polizei und den mächtigen Familien gegenüber fühlt. Denn das ist jedes Mal ein Thema, wenn ich länger als zwei Minuten mit jemandem aus diesem Land rede.

Auch wenn es immer wieder ganz liebenswerte Menschen gibt, denen ich begegne und mit denen ich rede: Die Gewalt, die sich von oben nach unten durchsetzt, kommt irgendwann unten bei der normalen Bevölkerung an und wird dort zur Normalität. Das merke ich hier, in Honduras, stärker als in El Salvador oder Guatemala. Nicht umsonst ist dieses Land das mit der höchsten Kriminalität und Mordrate der Welt.

Gegen Mittag erreichte ich die Grenze zu Nicaragua. An den zentralamerikanischen Landesgrenzen versammeln sich immer ganz viele Menschen, die meisten sicherlich mit ehrbaren Absichten, aber eben auch einige zwielichtige Gestalten. Daher bin ich immer sehr aufmerksam, wenn ich von Menschentrauben umringt werde, die mir entweder Cashewkerne verkaufen oder bei der "schnellen" Migration helfen wollen oder die Geld aus allen möglichen Währungen tauschen möchten. Aber auch hier funktioniert alles ohne Probleme.

Was mich heute noch stärker als gestern beschäftigt, ist die Hitze unterwegs. Ich habe ziemlich heftigen Gegenwind und das ist so, als wenn jemand einen riesengroßen Föhn auf höchster Luft- und Hitzestufe einschaltet. Ich glaube, meine Haut brennt und meine Kehle ist mit Sand bestreut. Mein Wasserbedarf steigt von normalerweise zwei bis drei Litern pro Tag auf sechs bis acht.

Die Umgebung hier hat etwas von einer Mondlandschaft. Ich sehe immer wieder hohe Vulkane um mich herum. Der San Cristobal begleitet mich den ganzen Tag, ich fahre dreiviertel um ihn herum.

In Chinandega endet mein bisher längster Radtag kurz vor Einbruch der Dunkelheit. Ich suche ein kleines Hotel und bin überrascht, wie teuer Nicaragua ist. Hier kostet die Nacht 25 Dollar, wo ich doch in allen anderen Ländern bisher immer mit rund zehn Dollar, häufig auch weniger, auskam.

Egal, ich bin viel zu fertig, um hier irgendwie zu diskutieren oder etwas anderes zu suchen.

Am nächsten Morgen sehe ich erst so richtig, wie schön das Hotel ist. Es hat einen geruhsamen Garten fürs Frühstück, welches "a la cortesia" ist - freie Auswahl. Ich nehme nach der Fleisch-Bohnen-Reis-Erfahrung von gestern gerne zwei Scheiben ordinären Toast mit Butter, Marmelade und Kaffee. Den künstlichen Orangensaft, den sie mir hinstellen, tausche ich in einen weiteren Kaffee ein.

Eigentlich will ich die großen und vor allem die Hauptstädte meiner Reiseländer meiden. Doch heute bin ich absolut fertig und nehme nochmal einen Chicken-Bus, um rund 130 Kilometer zu überbrücken. Diese Busse hier fahren allerdings alle über und nach Managua, der Hauptstadt Nicaraguas. Die Fahrt dorthin dauert gut zwei Stunden und ist recht abenteuerlich. An jeder größeren Haltestelle kommen irgendwelche fliegenden Händler mit allen möglichen Waren in den Bus. Ich kaufe gerne immer mal ein wenig Obst von ihnen. Meistens sind es junge Kerle oder Mütter mit ihren Kindern, die hier ihren Lebensunterhalt verdienen.

Managua selbst ist aus meiner Sicht hässlich, dreckig und laut. Und es stinkt. Selbst die nicht restaurierten Teile Havannas haben wesentlich mehr Charme als die schönsten Viertel der Hauptstadt Nicaraguas. Im Lonely-Planet-Reiseführer steht, man solle sich auf die Stadt einlassen und mal drei Tage bleiben. No way for me! Niente, nada, nunca, no!

Ich brauche rund sechzehn Kilometer, bis ich draußen bin. Dann wird's schön. Nachdem ich die große Ausfallstraße verlasse und in die Berge abbiege, Richtung Laguna de Apoyo, fahre ich über ein idyllisches Landsträßchen mit wenig Verkehr und immer wieder kleineren Ananas-Plantagen. Hier fühle ich mich wohl. Die Plantagenbesitzer haben an der Straße Verkaufsstände aufgebaut, an denen ich dann und wann anhalte und frische Früchte esse. Sehr lecker. Ich kaufe ungesehen - besser: unprobiert - fermentierten Ananassaft, der mir als - mit Zucker und Wasser vermischt - wohlschmeckende Erfrischung ("Refresco") angepriesen wird. Am Ende ist das Essig, den ich wohl eins zu hundert verdünnen müsste, um ihn trinken zu können. Nun gibt es aber minimal nur einen halben Liter zu kaufen, also könnte ich fünfzig Liter Wasser mit einem Kilo Zucker zu Refresco veredeln, was ich allerdings nicht mit dem Fahrrad transportieren will. So kippe ich einen kleinen Schluck Essig in eine meiner Wasserflaschen, bereue das nach rund einer Stunde und stelle die angebrochene Essigflasche dann an den Straßenrand.

Es ist schon spät, ich will zu einem See, der hier ausgeschildert ist, um dort wild zu zelten. Auf der Abfahrt zum See treffe ich einen jungen Jogger, den ich frage, ob ich hier richtig bin. Der Mann rät mir dringendst davon ab, um diese Zeit dorthin zu fahren. Und als er erfährt, dass ich zelten möchte, empfiehlt er mir ein kleines Hotel im nächsten Dorf. Ich überlege nicht lange, drehe um und schiebe mit ihm den steilen Berg hoch, den ich eben noch runtergerollt bin.

Wir quatschen noch ein wenig über Nicaragua und die Kriminalität dort. Sie ist wohl nicht so hoch wie in Honduras, doch Honduras exportiert einen beträchtlichen Teil seiner Kriminalität in das südliche Nachbarland. So ist der See, an dem ich zelten wollte, ein beliebter Ausflugsort und abends treffen sich dann dort eben "mala gente", schlechte Leute, um die Gegend unsicher zu machen.

Kriminalität - immer wieder dieses Thema. Ich bin froh, bisher noch keine Erfahrungen damit gemacht zu haben (bis auf ein geklautes Werkzeug). Und ich hatte bisher auch noch nie den Eindruck, in einer gefährlichen Situation gewesen zu sein. Dennoch ist das Thema permanent um mich herum. Ich darf nicht den Fehler begehen, meine Vorsicht aufzugeben, nur weil ich so langsam glaube, dass die Leute ein wenig übertreiben und wohl gerne auch mal Geschichten erzählen. Nein - an allem mag wohl was dran sein. Auch Nicaragua hat eine Zeit heftigster Bürgerkriege hinter sich, und das ist gerade mal gut zwanzig Jahe her.

Nach einer viertel Stunde verabschiede ich mich von meinem Begleiter und folge seiner Empfehlung in das kleine Hotel in Masatepe.

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Fortsetzung folgt.
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#1146869 - 30.07.15 20:59 Re: Centroamérica en bicicleta [Re: joeyyy]
ro-77654
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Sehr interessanter Bericht & gute Bilder.
Gewerblich: Autor und Lastenrad-Spedition, -verkauf, -verleih
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#1146998 - 31.07.15 19:34 Re: Centroamérica en bicicleta [Re: joeyyy]
joeyyy
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Donnerstag, 19.2.2015: Von Masatepe nach Granada

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Eigentlich will ich um sechs Uhr losfahren, aber mein Magen macht mir zu schaffen. Außerdem habe ich schlecht geschlafen, die Laster fahren fast durch’s Hotelzimmer. Und private Probleme aus der fernen Heimat sorgen für einen stetes Kopfkino.

Um sieben stehe ich dann doch auf, schmeiße eine Imodium ein und packe meine Sachen. Nützt ja nix, wie der Münsterländer so schön zu sagen pflegt.

Ich beschließe, heute nur rund 25 Kilometer bis Granada zu fahren und morgen dann weiter zur Isla Ometepe. Meine Nicaragua-Karte zeigt mir, dass ich von den Pueblos Blancos einfach auf die Hauptstraße abbiegen kann und dann direkt über einen kleinen Knick nach Granada gelange. Die Routingfunktion meines GPS schlägt mir allerdings einen Weg im Hinterland, direkt an der Laguna Apoyo entlang, vor. Ich bin skeptisch, schließlich hat mich bisher jede Routingfunktion irgendwann in eine Sackgasse, vor einen Bahndamm oder in militärisches Sperrgebiet gelotst. In Kuba endeten Lennart und ich schließlich im Gefängnis.

Aber warum nicht? Schließlich habe ich heute genügend Zeit für die paar Kilometer und selbst wenn ich 25 Kilometer schieben müsste, wäre ich in 5 Stunden in Granada.

Und siehe da: die Route ist zwar sehr holprig und staubig, aber es fahren weder Laster noch Autos hier. Hin und wieder kommt mir mal ein Tucktuck entgegen oder ein Ochsengespann oder Kinder auf ihren Farrädern. Ich habe stets wunderbare Blicke in die Lagune. Diese ist ein Kratersee, der rund 200 Meter unter mir die Sonne spiegelt. Leider ist es ziemlich diesig, so dass ich nicht so schöne Fotos schießen kann.

Und da ich gestern auf rund 500 Meter Höhe geklettert bin, geht es heute weitestgehend bergab. Also: Fahrradfahren kann ich auch. Aber das Material, die Arme, die Schultern und mein Kreuz werden ganz schön durchgerüttelt.

Gegen Mittag erreiche ich die älteste Kolonialstadt Zentralamerikas und suche mir ein Hostal in einem dieser alten Gebäude, das viele Zonen zum Chillen bietet. In einer Hängematte döse ich dann ziemlich schnell ein und werde erst am späten Nachmittag wieder wach.

In Granada selbst findet gerade eine Buchmesse statt. Ich schlendere auf die Plaza Central, stöbere ein wenig in den Regalen und bin überrascht, wie viele politische Bücher hier verlegt werden. Viele von ihnen setzen sich mit der gewalttätigen Vergangenheit dieses Landes auseinander. Nicaragua selbst hatte nie eine Chance, sich von den Interessen großen Mächte zu befreien. Beim Blättern in den Büchern erinnere ich mich wieder an viele Schlagworte aus den achtziger und neunziger Jahren. Die Geschichte der sandinistischen Bewegung, der Iran-Contra-Skandal unter Reagan, der Versuch der CIA, die nicaraguanischen Häfen zu verminen, die Somoza-Diktatur mit der Aneignung von Ländereien, so groß wie El Salvador. Aber auch die deutsche Geschichte wird beleuchtet: Wie konnte ein Familienmensch wie Himmler eine solch menschenverachtende Idee wie die “Endlösung” entwickeln und zur Umsetzung anweisen?

Ich glaube, ich unterschätze dieses Land und sehe es “nur” als Transit nach Costa Rica an. Nicaragua hat eine sehr lebendige Kunstszene, auch das zeigen die Bücher. Und es hat Natur, ist sehr dünn besiedelt. Die komplette Atlantikseite ist zum größten Teil unberührter Regenwald. Aber da kommt man nur per Schiff oder Flugzeug hin.

Vielleicht fahre ich dann nach dem Lago Nicaragua mal in Richtung Karibik, bevor ich nach Costa Rica einreise.

An meine kulturellen Eindrücken schließen sich noch einige soziale und kulinarische Eindrücke an. Ich habe Lust auf einen Kaffee und gehe ins Café de las Sonrisas, das Café der (verschiedenen Arten zu) Lächeln. Dieses Café wird von einer Organisation betrieben, die taubstummen Menschen eine Erwerbsarbeit ermöglicht. Hier wird neben dem Cafébetrieb auch produziert. Hängematten, Sitzkissen und Decken stellen die zumeist jungen Leute her. Im Café selbst sind die wichtigsten Gebärdensprach-Gesten an die Wand gemalt. Sie reichen aus, um zu zeigen, wie man aus der Speise- und Getränkekarte des Cafés bestellt, die Rechnung ordert und Höflichkeiten ausdrücken kann. Es wird ausdrücklich darum gebeten, sich vor der Bestellung mit der Gebärdensprache auseinanderzusetzen. Und die einfachste Geste ist ein Lächeln. Daher der Name des Cafés.

Ich versuche es mit einem normalen gebrühten Nicaragua-Kaffee in Gebärdensprache und bin gespannt, was ich nun kriege.

Es hat funktioniert, vor mir duftet eine Tasse schwarzen Kaffees mit wunderbar kräftigem Aroma.

In einer der selbst gemachten Hängematten liege ich nun und lese noch ein wenig im Reiseführer. Am liebsten würde ich gern ein wenig wegdösen, aber dazu ist es schon zu spät, das Café schließt gleich.

Auf dem Rückweg zum Hostal begegnet mir ein Trauerzug. Ohje, allein die Musik macht mich traurig – egal, wer da gestorben ist. Das nenne ich mal stilvolle Beerdigung. Eine Leichenkutsche mit Trauerzug hinten dran, angeführt von einer Kapelle mit Jungs, die so spielen, dass man nicht weiß, ob die Musik jetzt so gespielt werden muss, wie sie gespielt wird, damit sie traurig klingt oder ob sie so verzweifelt gespielt wird, dass sie so traurig klingt, wie sie eigentlich gar nicht klingen sollte, da das ganze eigentlich gar keine Trauermusik ist. Am Ende ist das unwichtig und einfach nur Trauer.

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Mehr Bilder gibt es hier (klick)

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Fortsetzung folgt.

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#1147480 - 04.08.15 09:20 Re: Centroamérica en bicicleta [Re: joeyyy]
grenzenlos
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Hallo,
macht echt Freude. Danke fürs Teilen schmunzel
Freue mich auf die Fortsetzungen.
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#1148086 - 06.08.15 09:55 Re: Centroamérica en bicicleta [Re: grenzenlos]
joeyyy
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...gleichfalls schmunzel

Verfolge Euren Bericht in den Outdoorseiten auch ganz gespannt.

Gruß

Jörg.
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#1155403 - 06.09.15 14:26 Re: Centroamérica en bicicleta [Re: joeyyy]
joeyyy
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Freitag/Samstag, 20./21.2.2015: Von Granada zur Isla Ometepe und Ruhetag am Vulkan

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Die ganze Stadt wird von einer Blasmusik-Kapelle geweckt. Fehlende Präzision beim Ansatz und beim Treffen der Töne machen die Spieler durch Engagement und Pustekraft wieder wett. Sie marschieren direkt unter dem Fenster meines Dormitorios entlang. Und Fenster haben hier in Granada keine Glasscheiben oder irgendeinen nennenswerten schallisolierenden Effekt.

Und durch dieses Fenster fällt kein einziger Lichtstrahl, das heißt: Es kann nicht mal halb sechs sein. Nach rund einer halben Stunde schlafe ich wieder ein. Vorher schalte ich noch den Wecker aus, Schlaf ist wichtiger als früh los kommen.

Zum Frühstück bestelle ich mir wieder einfach nur Toast, Butter und Marmelade. Und natürlich den obligatorischen Kaffee. Es ist soweit: Ich kann diese Bohnenpampe, Rühreier mit Schinken oder Fleisch und gebackene Bananen nicht mehr sehen.

Das frühe Granada mit seiner klaren Morgenluft lädt die Augen viel eher zum Schauen und Staunen ein als das diesige, heiße Nachmittags-Granada. So bleibe ich dann auch noch oft stehen und fotografiere ein wenig bevor ich die Stadt in Richtung Süden verlasse.

Stadtauswärts geht es zunächst bergauf. Um Kräfte zu sparen und meiner Orthopädie ein wenig Abwechslung zu gönnen, schiebe ich, und um im Schatten zu schieben, wechsel ich die Straßenseite. Mir kommt ein Amerikaner auf einem alten Mountainbike entgegen, der anhält. “Why are you walking?” schlägt es mir in breitem texanischen Dialekt völlig naiv entgegen. “Because I’m long time travelling, not racing for a today’s goal.” Seine Augen haben jetzt etwas von dieser Sanduhr, die bei Windows immer läuft, wenn der Computer denkt. “And why are you walking on this side of the street?” kommt gleich der nächste Klopfer. Sesamstraße wirkt: Wer nicht fragt, bleibt dumm. Ich anerkenne das ehrliche Interesse und antworte ernst: “Because the sun shines, it’s exhaustingly hot and the shadow is on this side!” Diesmal läuft die Sanduhr nicht so lange. Ich warte auf die Standardfrage der Amis nach dem Grund, zu radeln, wo es doch Autos und Busse gibt. Die bleibt aus, vielleicht weil er selbst gerade radelt – aber selbst das ist für einen echten Ami kein Grund, Reiseradler zu verstehen. Der Typ hat was von Lance Armstrong in seiner Art und seinem Aussehen. Ich bin immer wieder erstaunt, mit welcher Selbstverständlichkeit die US-Amerikaner die Menschen hier einfach so auf englisch ansprechen, unterstellend, dass jeder englisch spricht. Aber auch ansonsten kommen die Cowboys und -girls aus dem stärksten Land der Welt überhaupt nicht gut weg bei mir, hier in Zentralamerika. Mir geht dieser Kaugummislang, der mir allerorten ins Ohr kriecht, langsam auf den Geist.

Der Transitverkehr ist auf der Straße, die ich heute nehme, sehr dicht. Die großen Trucks können einem schon Angst einflößen. Sie donnern mit hoher Geschwindigkeit und kaum nennenswertem Abstand an mir vorbei, es gibt nur eine Fahrspur pro Richtung und keinen Seitenstreifen. Wenn sich also zwei Laster auf meiner Höhe treffen, wird es eng für mich. Und bremsen oder Geschwindigkeit reduzieren will hier keiner. An einer Baustelle, die die Gegenfahrspur absperrt, kommt mir so ein großes Ding auf meiner Spur entgegen. Der Fahrer hupt nur mal kurz, nimmt ansonsten aber keine Rücksicht. Ich frage mich, warum hier so wenig passiert. Ich muss jedenfalls höchst aufmerksam bleiben, darf mir keine Ablenkung vom Verkehr erlauben.

Ich überlege ernsthaft, die Panamericana in Südamerika mit meiner alten 75/5 zu fahren – das ist wohl wesentlich sicherer als mit dem Fahrrad. Aber… Nee. Höchstens, wenn die Beine nicht mehr wollen.

In einer Bar will ich was Kühles trinken, treffe drei Reiseradler aus Montreal, Kanada. Vater, Mutter, Tochter. Die Eltern sind in etwa in meinem Alter, die Tochter ist irgendwo zwischen 20 und 25.

Das wäre nicht weiter erwähnenswert, wenn sich nicht ein gutes Gespräch entwickeln würde. Die Alten sind trotz ihres jungen Alters bereits in Rente und erfreuen sich ihres Reichtums, den sie während ihres Berufslebens angehäuft haben. Sie wirken überhaupt nicht arrogant, machen das, was ich an ihrer Stelle vielleicht auch machen würde. Waren letztes Jahr für sechs Monate mit den Rädern unterwegs, von Istanbul bis Amsterdam.

Wir sprechen über die Skepsis, die sie selbst haben, da durch ihre freie Wahl, machen zu können, was sie wollen, die eigentliche Vorfreude fort ist. Es ist wie mit den Jahreszeiten: wenn man den Frühling und den Sommer mag, dann doch genau deshalb, weil man den Herbst und den Winter ebenfalls erlebt, vielleicht sogar erleidet. Wenn man permanent im Frühling oder Sommer lebt, verlieren diese besonderen Jahreszeiten irgendwann ihren Wert.

Das Besondere kann ohne das Gewöhnliche nun mal nicht sein.

Nach dem Gespräch denke ich noch weiter. Ich frage mich, was es mit mir machen würde, wenn ich für meinen Lebenserwerb nicht mehr arbeiten müsste. Würde ich dann wirklich nicht mehr arbeiten? Ich würde sicherlich arbeiten, vielleicht nicht für meinen Erwerb. Aber selbst das wäre ein gänzlich anderes Gefühl, als das, arbeiten zu müssen. Wenn ich all meine Obligationen aus meinem eigenen vorhandenen Kapital bedienen könnte, könnte ich mir dann freie Zeit nehmen, wenn ich sie bräuchte. Ich müsste nicht dafür kämpfen, ich müsste sie mir nicht einteilen, ich müsste nicht dafür bezahlen. Freie Zeit wäre kein knappes Gut mehr. Und Güter sind umso wertvoller, je knapper sie sind. Also hat freie Zeit, wenn sie denn im Überfluss vorhanden ist, keinen Wert. Ich müsste freie Zeit künstlich rationieren, um ihr wieder einen einigermaßen angemessenen Wert zu geben.

Außerdem wird, wer nicht mehr kämpfen muss oder sich nichts einteilen muss, schnell müde und dekadent. Auch das ist für mich kein erstrebenswerter Zustand.

Auf der Höhe der Isla Ometepe biege ich links ab, Richtung Fähre zur Insel. Diese erwische ich gerade noch so im letzten Moment.

Mein Fahrrad kommt einfach mit an Deck, ich lehne es zunächst an ein Geländer. Der Wind ist extrem heftig heute, der See aufgerauht wie die Ost- oder Nordsee. Das bringt die Fähre zum Schaukeln. Glücklicherweise habe ich keine Probleme mit der Seekrankheit.

Mein Fahrrad fällt um, ich lasse es liegen, da es wohl wieder umfallen würde, wenn ich es hinstellen würde. Der Kahn schaukelt extrem. Immer wieder spritzt uns die Gischt nass, einige Leute fangen bereits an zu frieren. Die näher kommende Insel gibt ein bedrohliches Bild ab. Die Gipfel der Vulkane sind in dunkle Wolken gehüllt, man könnte meinen, es sei Rauch und sie würden gleich beginnen Feuer zu spucken.

Immer wieder muss der Kapitän der Fähre beidrehen und seine Richtung verlassen, um den Rumpf senkrecht zur Fließrichtung der Wellen zu stellen. Das lässt uns zwar extrem längswärts schaukeln, verhindert aber das Kentern.

Auf der Insel suche ich mir ein Hostal gleich im nächsten Ort, es regnet ein wenig bei meiner Ankunft. Eigentlich wollte ich noch rund dreißig Kilometer fahren, um den Top-Spot des Lonely Planet anzusteuern. Aber das schenke ich mir, am Ende ist es mir egal, wo ich meinen Ruhetag verbringe. Mein Hostal wird von einer Kooperative indigener Nicaraguaner betrieben, die von dort aus auch ihrer Landwirtschaft und Imkerei nachgehen.

Ich belege ein Einzelzimmer und kann mein Fahrrad mit aufs Zimmer nehmen. Das passt mir gut.

Nach dem Waschen meiner Wäsche in der Waschküche döse ich noch ein wenig in einer Hängematte im Hostal-Garten und gehe dann auch bald ins Bett.

Der nächste Tag ist ein Ruhetag auf der Insel und er ist – entgegen meiner ursprünglichen Planung – ein echter Ruhetag. Ich hänge den ganzen Tag einfach nur ab, gehe nur abends mal kurz an den kaum vorhandenen Hafen, um zu schauen, wann meine Fähre morgen fährt.

Ich lerne ein wenig Spanisch und Epistemologie. Schließlich will ich ja wissen, was ich weiß und wie und warum.

So ist der Tag zumindest gefühlt alibimäßig produktiv. Und selbst wenn nicht: Mañana entonces, dann eben morgen.

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Mehr Bilder gibt es hier (klick)

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Fortsetzung folgt.
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#1155669 - 07.09.15 13:14 Re: Centroamérica en bicicleta [Re: joeyyy]
Gangwechsler
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Hallo Jörg,
mit dem Foto in schwarz/weiß hast du die bedrohliche Überfahrt sehr gut in Szene gesetzt!
Gruß Roland
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#1155933 - 08.09.15 17:18 Re: Centroamérica en bicicleta [Re: Gangwechsler]
joeyyy
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In Antwort auf: Gangwechsler
Hallo Jörg,
mit dem Foto in schwarz/weiß hast du die bedrohliche Überfahrt sehr gut in Szene gesetzt!


Danke!

Es war auch eine abwechslungsreiche Überfahrt. Einige Backpacker/innen waren ziemlich bleich im Gesicht, als wir auf der Insel ankamen.

Die beiden Ometepe-Vulkane waren aber auch dankbare Motive. Ich habe locker 15 bis 20 Bilder gemacht (dabei ist wichtig, zu wissen, dass ich genau so fotografiere, wie ich das zu Zeiten der 36er Filme gemacht habe - also sparsam und mit vorheriger Überlegung).

Gruß

Jörg.
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#1155947 - 08.09.15 18:04 Re: Centroamérica en bicicleta [Re: joeyyy]
panta-rhei
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Hey Joeyyy,



Lese eigentlich selten hier die Reiseberichte.

In Antwort auf: joeyyy
Besten Dank für's Lob, lese ich gern schmunzel


Aber Deiner sticht heraus, Dein Erleben, Fühlen, Nachdenken - finde mich da sehr wieder, wenn ich an meine längeren Reisen ausserhalb Europas denke.

Gerade der Salvadorteil. Wird ja nicht sooo oft bereist. Filmvorschlag: "Salvador" von Oliver Stone. Bin selbst oft da gewesen (leider ohne Rad) ... und kein einziger KM-Stand, Höhenmeterwert etc... zwinker ...tstststs.

Macht voll Lust!

Geh jetzt meine Hinterradschwinge fertiglöten, sonst werde ich ganz verrückt hier ...
Liebe Grüsse - Panta Rhei
"Leben wie ein Baum, einzeln und frei doch brüderlich wie ein Wald, das ist unsere Sehnsucht." Nâzim Hikmet, Dâvet
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#1156069 - 09.09.15 08:18 Re: Centroamérica en bicicleta [Re: panta-rhei]
joeyyy
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Oha, das macht mich verlegen und ich freue mich wirklich. Den Film von Oliver Stone kenne ich noch nicht, werde ihn mir aber besorgen und anschauen. Danke für den Tipp.

El Salvador hat mich aber auch nachhaltig positiv beeindruckt.

Gruß

Jörg.
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Off-topic #1156275 - 09.09.15 20:12 Re: Centroamérica en bicicleta [Re: joeyyy]
panta-rhei
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Unterwegs in Französische Südpolar-Territorien

In Antwort auf: joeyyy
Den Film von Oliver Stone kenne ich noch nicht, werde ihn mir aber besorgen und anschauen.


Ein wenig bekanntes Meisterwerk - Stones völliger Kassenflopp. Liefert viel zum Verständnis der heutigen Situation im Lande und exemplarisch auch der in den Nachbarländern.

Und der "Major Max" des Films (AKA "Major Bob" = Roberto D'Aubisson, Gründer eines der Todesschwadrone der 80er) hat auch heute noch ein riesiges Denkmal im Villenvorort der Hauptstadt ... weinend
Liebe Grüsse - Panta Rhei
"Leben wie ein Baum, einzeln und frei doch brüderlich wie ein Wald, das ist unsere Sehnsucht." Nâzim Hikmet, Dâvet
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#1159273 - 20.09.15 20:57 Re: Centroamérica en bicicleta [Re: joeyyy]
joeyyy
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Sonntag, 22.2.2015: Von der Isla Ometepe in Nicaragua nach La Cruz in Costa Rica

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Großes Bild in Link umgewandelt!

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Der Ruhetag auf der Insel hat gut getan. Vor allem auch das etwas kühlere Wetter und der frische Wind. So schwinge ich mich auf mein Rad und fahre runter zum Hafen. Vorher kaufe ich noch ein Glas Honig, der von der hiesigen Kooperative geschleudert wurde.

Die Fähre schaukelt heute weniger heftig als vorgestern. Dafür sind die beiden Kapitäne umso heftiger. Die Metall-Silhouette einer sparsam bekleideten Frau winkt ihnen vom Fenster der Kapitänskajüte aus im Takt der Wellen zu. Dieses Winken scheint zu hypnotisieren, jedenfalls haben sich die beiden Jungs während der knapp einstündigen Überfahrt locker zwei mal abgewechselt, damit immer einer auch schlafen und von winkenden Schönheiten träumen konnte.

In San Jorge auf dem Festland fahre ich in eine Demonstration. Die Menschen haben einen Marsch gegen den Kanal organisiert, das vorherrschende politische Thema hier in Nicaragua. Das Thema der Proteste steht auf den Fahnen und Banderolen, wie die Stimmung in der Bevölkerung ist, will ich erfragen.

Mein Fahrrad stelle ich auf der Hauptstraße an eine Hauswand, schließe es ab und gehe mit der Kamera los, um ein paar Fotos zu schießen. Einige Leute glauben, dass ich ein Gringo-Reporter sei und kommen gleich auf mich zu, um mir Antworten auf Fragen zu geben, die ich gar nicht gestellt habe. Na, egal, ich behaupte weder die Bestätigung ihrer Annahme noch das Gegenteil und höre einfach zu.

Es ist das Standardproblem der zentralamerikanischen Länder: Korruption und Vetternwirtschaft. So wirklich gebraucht wird ein zweiter Kanal zwischen Atlantik und Pazifik nicht. Aber er verspricht viel Geld. Viel Geld beim Bau und viel Geld im Betrieb. Und als Kosten des Kanals werden ausschließlich die ökonomischen Zahlen gesehen. Und nur die sind zu zahlen und den Erträgen gegenüberzustellen. So bewerten es die Politiker, die Geschäftsleute und die Großgrundbesitzer. Aber es gibt noch Kosten und Schäden, die unberücksichtigt bleiben, weil sie sich dem beschränkten Wahrnehmungspotenzial der Menschen entziehen. Die Umweltschäden durch Artensterben, Waldrodung und das Kippen einiger ökologischer Gleichgewichte ahnen und prognostizieren die Menschen hier. Aber sie werden auf keiner Investitionsrechnung auftauchen.

Das Enteignen und Umsiedeln indigener Bevölkerungsgruppen ruft den emotionalsten Impuls im Widerstand hervor. Die Menschen hier wissen, wie mies und gewalttätig es zum Beispiel in Guatemala lief. Auch diese Faktoren werden auf keiner Investitionsrechnung auftauchen. Schließlich ist das Enteignungsgesetz zum Bau des Kanals bereits seit 1999 in Kraft und es gibt auch schon die ersten Vertriebenen und Toten drüben, an der dünn besiedelten Atlantikküste. Eine Frau sagt mir, dass dort im Regenwald private Schutzdienste unterwegs seien und die indigenen Völker vertrieben. Die Baufirmen, die eingesetzt werden sollen, gehören Politikern aus dem Parlament von Managua.

Mir fällt auf, dass einige Priester vorn in der ersten Reihe mitmarschieren. Zentralamerika ist sehr gläubig, hängt dem katholisch geprägten Christentum an. Wahrscheinlich wird allerdings auch in Nicaragua gelten: Geld ist wichtiger als Glauben.

Ich lasse mir die Gedanken an den Kanal noch länger durch den Kopf gehen, fahre an gegen den Wind und die Hitze, die aus dem jetzt nahen Costa Rica kommen. Der Wind kann in dieser Gegend wohl stark genug werden, um Rotoren von Windrädern abzubrechen.

Am Rand des Sees entlang fahrend sehe ich immer wieder auf’s Wasser und stelle mir vor, jetzt dort zu baden. An einer Einfahrt zum Strand biege ich links ab, lege mein Rad in den Sand und laufe in den See. Er ist kälter als gedacht. Frischer als vorgesehen. Mir ist das egal, die Sonne wird meine Sachen in Nullkommanix trocknen.

Zwei Jungs in der Nähe wollen Fische fangen. Einer wirft Steine ins Wasser, der andere schaut, ob sich was bewegt und taucht hin und wieder ab. Ich frage die beiden, ob sie auf diese Weise schon mal einen Fisch gefangen hätten. Der eine sagt nein, der andere ja. Für heute sind sie guten Mutes.

Einen Fisch haben sie zwar nicht, dafür einen Hund. Die Geier, meine ich. Für mich ist es spannend, zu sehen, wie diese Vögel in ihre Nahrung hineinhüpfen und die toten Tiere dann aushöhlen.

Costa Rica bietet sofort nach dem Grenzübergang ein komplett anderes Landschaftsbild. Ich bin plötzlich im Regenwald unterwegs, die Panamericana ist nur noch ein kleines Sträßchen mit wenig Verkehr. Der Stau auf der nicaraguanischen Seite war ziemlich lang, weil alle LKW abgespritzt werden müssen. Und mit der Seelenruhe, mit der die Zöllner an der Arbeit sind, schaffen die höchstens zehn Laster pro Stunde. Entsprechend ruhig ist hier der Verkehr. Und – was ganz besonders angenehm ist – es liegt kein Müll rum. Das fällt sofort auf. Weder im Wald noch in den kleinen Orten, durch die ich fahre.

Allerdings merke ich gleich am ersten Kiosk, an dem ich mal wieder eine Kola trinken möchte, dass Costa Rica teuer ist. Sehr teuer. Mindestens drei bis viermal so teuer wie Guatemala oder Honduras. Mindestens so teuer wie Europa.

Und Costa Rica ist windig. Noch windiger als Nicaragua.

Gegen fünf Uhr nachmittags komme ich durch den ersten größeren Ort, La Cruz. Ich biege ab, Richtung Osten, Richtung Santa Cecilia. Der Wind ist nun brachial. Das schaffe ich nicht, denke ich – keine zehn Kilometer. Den ganzen Tag bin ich unterwegs, Hitze und Wind haben gezehrt. In einer Stunde wird es dunkel und mein Wasser reicht nicht für Essen, Trinken und Waschen, wenn ich heute irgendwo wild zelte. Außerdem bezweifel ich, dass ich bei dem Wind eine ruhige Nacht hätte. Ich drehe um und fahre wieder zurück nach Santa Cruz. Hostal y Restaurante Punta Descartes. Das ist ein sehr sympathisches Schild. Cogito, ergo sum. Genauso wie Descartes zweifelte, habe ich gezweifelt und nun die Antwort gefunden. Im Hostal Descartes. Danke, alter Franzose.

Mit dem Eigentümer werde ich schnell handelseinig, mein Rad kommt in die Garage und ich dusche mich in meinem Zimmer.

Der Mirador – der Aussichtspunkt – von der Terasse des Hostals ist genial. Der Pazifik liegt mir zu Füßen, die Sonne geht in ihm unter. Außerdem spielen zwei Musiker irgendwas, was zum Land und den Leuten passt. Als Essen ordere ich Fisch, dazu eine Flasche kaltes Bier. Das hab ich mir heute verdient. Lecker, lecker, teuer. 40 Dollar auf der Rechnung überraschen mich ein wenig, aber das Essen ist es wert.

Ein mexikanischer Fotograf erkennt, dass mein T-Shirt mexikanischen Ursprungs ist und setzt sich zu mir. Er ist so ein Rasta-Typ und schon ziemlich angeheitert. Ob durch Alkohol oder durch Ganja, kann ich nicht sagen. Der Schlüssel zum Frieden liegt im Zuhören. Sagt er. Und redet und redet und redet. Und schläft irgendwann am Tisch ein.

Ich lasse die Rechnung aufs Zimmer buchen und gehe dann auch ziemlich müde ins Bett.

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Mehr Bilder gibt es hier (klick)

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Fortsetzung folgt.

Geändert von Keine Ahnung (21.09.15 09:40)
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#1159338 - 21.09.15 13:21 Re: Centroamérica en bicicleta [Re: joeyyy]
joeyyy
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In Antwort auf: joeyyy
Großes Bild in Link umgewandelt!


...sorry. Hier die kleine Version und eines zusätzlich:





Gruß

Jörg.
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#1159343 - 21.09.15 13:41 Re: Centroamérica en bicicleta [Re: joeyyy]
Keine Ahnung
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Wie ich schon geschrieben hatte, gefällt mir der Bericht wirklich gut. Die Bilder sind auch toll (und nun alle in korrekter Größe zwinker ).
Gruß, Arnulf

"Ein Leben ohne Radfahren ist möglich, aber sinnlos" (frei nach Loriot)
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#1166174 - 21.10.15 09:24 Re: Centroamérica en bicicleta [Re: joeyyy]
:-)
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In Antwort auf: joeyyy

Hier ist zur Info meine grobe Reiseroute:

Link zu Karte: Karte



Hallo Jörg,

tolle Tour, faszinierende Bilder! Besten Dank für die Mühe hier deine Reiseberichte zu teilen.

Der Link zur Karte funktioniert leider nicht :-(

Gruß
Jörg
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#1166976 - 23.10.15 20:15 Re: Centroamérica en bicicleta [Re: :-)]
joeyyy
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In Antwort auf: :-)
In Antwort auf: joeyyy

Hier ist zur Info meine grobe Reiseroute:

Link zu Karte: Karte



Hallo Jörg,

tolle Tour, faszinierende Bilder! Besten Dank für die Mühe hier deine Reiseberichte zu teilen.

Der Link zur Karte funktioniert leider nicht :-(

Gruß
Jörg


...danke, gern geschehen. Eure Kommentare ermutigen mich ja auch mit, weiter zu schreiben und da auch ein wenig Zeit und Kreativität zu investieren.

Versuch's mal mit dem Link [klick] hier. Habe wohl irgendwie die Bilder umgeschichtet und kann den Beitrag jetzt nicht mehr ändern.

Gruß

Jörg.
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#1166977 - 23.10.15 20:16 Re: Centroamérica en bicicleta [Re: joeyyy]
joeyyy
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Montag, 23.2.2015: Von La Cruz zur Laguna Arenal - oder: Wie Russen in Costa Rica Geld verdienen

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Um acht Sitze ich wieder am Mirador, genieße die Aussicht und bestelle mir mein Frühstück. Toast mit Marmelade, schwarzen Kaffee. Etwas anderes will ich nicht mehr haben.

Um kurz nach acht setzen sich die beiden Musiker von gestern abend zu mir, wir frühstücken zusammen und quatschen bis halb elf. Über Großmütter und die Arbeit auf dem Lande, Musik, René Descartes, das Leben in Costa Rica. Wir sind uns sympathisch, ich freue mich immer, wenn ich Menschen kennen lerne, die relativ schnell meine Freunde sein könnten. Warum klappt so etwas immer nur auf Reisen? Warum nicht auch zu Hause?

Ich will weiter, ins Landesinnere, nach Upala. Rund 5 Kilometer folge ich noch der Panamericana, dann biege ich geradewegs in Richtung Osten ab. Der Wind, der gestern Abend das ganze Haus durchgerüttelt hat, hat sich kaum abgeschwächt. Auf dem Weg in Richtung Osten muss ich gegen ihn ankämpfen. Selbst bergab fahre ich mit einstelliger Tachozahl. Auf gerader Strecke muss ich schieben. Ich sehe auf der Karte, dass es bis Upala noch rund 80 Kilometer sind. Nach rund 5 Kilometer aussichtslosem Kampf drehe ich wieder um. Entweder fahre ich hier per Anhalter in Richtung Osten oder ich nehme mit dem Fahrrad die Panamericana, die etwas mehr windgeschützt zu sein scheint.

Der Name dieser Region hier wurde von der Urbevölkerung übernommen. Er bedeutet Land des Windes und des Regens. Ein Tico an der Straße erklärt mir, dass hinter Upala der Wind wohl schwächer werden sollte. Aber so richtig weiß man das nicht, da der Wind durch die Vulkane beeinflusst wird. Und welcher der Vulkane den Wind gerade beeinflusst, weiß man eben auch nicht. Und eigentlich sei der Wind heute doch gar nicht so schlimm.

Ich drehe um und halte bei jedem Pickup, der vorbeifährt, den Daumen raus. Es hält keiner an. Gegen zwölf bin ich wieder an der Kreuzung der Straße ins Landesinnere und der Panamericana. Der Bus nach Upala hält gerade, ich frage den Fahrer, ob ich mein Fahrrad mitnehmen könne. Der verneint, verweist auf einen Bus später, von dem er aber nicht wisse, wann er fahre. An der Kreuzung selbst findet gerade eine Polizeikontrolle statt, die blau Uniformierten halten Laster und Busse an, um Pässe zu prüfen. Ein Polizist steigt gerade in einen der großen Busse ein, der nach Cañas fährt. Ich schaue kurz auf meine Karte, radel schnell zum Bus, frage den Busfahrer ob ich mein Fahrrad mitnehmen könne, der grummelt ein wenig, steigt dann aber aus, öffnet den Kofferraum und ich kann mein Fahrrad dort einfach rein schieben. Ich drücke dem Fahrer zehn Dollar in die Hand, gehe nach hinten durch und setze mich auf einen freien Platz. Erleichtert schaue ich aus dem Fenster und beobachte die ziehenden Wolken über den Vulkanen.

Costa Rica wollte ich eigentlich komplett mit dem Fahrrad durchfahren, schließlich sind noch gut zweieinhalb Wochen Zeit bis der Flieger nach Hause geht. Aber für diesen Wunsch habe ich einfach und schlicht die falsche Richtung gewählt. Von Nordwesten nach Südosten muss ich meine durchschnittlichen Tagesetappen durch drei teilen, um in etwa kalkulieren zu können. Das ist extrem frustrierend und außerdem schaffe ich dann meine Tour nicht bis Panama. Also rede ich mir ein gutes Gewissen ein, wenn ich mit dem Bus fahre.

Gegen halb drei bin ich dann in Cañas. Mein Garmin lotst mich aus dem Ort heraus, über kleine Sträßchen in Richtung Laguna de Arenal. Es sind nur noch 22 Kilometer und dafür habe ich knapp drei Stunden Zeit. Das sollte machbar sein. Aus dem Ort heraus fahre ich zunächst in Richtung Norden, dann nach Osten. Und bergauf. Frustriert und gern pauschalierend denke ich: Es ist letztlich egal, in welche Richtung ich fahre, der Wind bläst immer von vorn und es geht immer bergauf. Die Vulkane sind heute gegen mich. Nicht nur heute, sondern eigentlich die ganze Zeit schon. Um halb fünf schaue ich dann auf meinen Tacho, ich habe in zwei Stunden immerhin 10,5 Kilometer geschafft. Stundenmittel: 5,25 Kilometer.

Den See kann ich mir heute als Tagesziel abschminken. Ich stelle mein Fahrrad an den Straßenrand, pinkle in die Botanik und gönne mir dann etwas Salz mit Wasser aus der Flasche. Während ich so mit mir beschäftigt bin, kommt ein Pickup rückwärts zu mir gefahren. Der Fahrer fragt, ob er mich mitnehmen könne und wo ich denn hin wolle. Wir einigen uns auf den See als Ziel, er steigt aus, öffnet die Heckklappe, innerhalb von fünf Sekunden habe ich das Gepäck vom Fahrrad genommen und innerhalb von zehn Sekunden liegt das Fahrrad samt Gepäckstaschen auf der Ladefläche des kleinen Lasters.

Im Innenraum sitzen schon die Frau von Wilbert und sein Sohn.

Die Familie wohnt in einem kleinen Dorf am See und ist gerade auf dem Heimweg. Sie haben aus Mitleid angehalten, weil sie wissen, wie brutal die Sonne heute scheint und der Wind weht. Mitleid gibt es zwar umsonst, aber da die Fahrradeinheit Costa Ricas sowieso schon im Eimer ist, halte ich das Mitleid gerne mal aus und bin unterwegs sehr froh darüber. Es geht wirklich steil bergauf, den Wind merke ich nicht im Auto. Ich komme mit der Familie ins Gespräch. Sie laden mich auf einen Kaffee in ihr Haus ein, leider ist es schon spät und wenn ich wirklich noch zum See und dort mein Zelt aufstellen will, dann muss ich das Angebot leider ablehnen.

Am See selbst fahre ich noch rund zehn Kilometer, bevor ich eine Kaffeerösterei erreiche. In Zentralamerika gibt es zwar tausende von Kaffeeplantagen, aber richtig guten Kaffee habe ich hier bisher nur selten trinken können. Also bin ich quasi gezwungen, hier einzukehren und zumindest zu hoffen, dass es hier richtig guten Kaffee gäbe. Und ja, der Kaffee schmeckt sehr lecker. Das Gelände ist groß und wirkt etwas verlassen, daher frage ich, ob ich hier heute Nacht zelten könne. Der Chef der Rösterei bietet mir nicht nur einen Zeltplatz an, sondern auch eine Dusche und sogar ein Bett in seinem Haus, das für Saisonarbeiter gedacht ist.

Ich will keine große Mühe machen, bedanke mich für den Zeltplatz, nehme aber die Dusche liebend gern an um ein Bad in dem kalten See zu vermeiden.

Im Café selbst sitzt jetzt noch ein Russe und trinkt ebenfalls Kaffee. Wir kommen ins Gespräch. Er wohnt hier für vier Monate, hat sich ein Haus gemietet und verdient sein Geld mit Online-Poker. Er ist promovierter Mathematiker und kann von überall auf der Welt aus spielen. Ich bin interessiert. Pjotr, so heißt der Russe, spielt an rund 20 Tischen gleichzeitig. Das geht nur online. Er sagt, es sei alles eine Frage der Statistik. Man brauche Erfahrung, ein gutes Gedächtnis und die Fähigkeit, schnell rechnen zu können, wenn man erfolgreich sein will.

Wir reden auch ein wenig über die aktuelle Situation in Russland. Sind uns einig, dass die Isolation Russlands für alle Seiten negative Konsequenzen hat. Sprechen über die eine Konsequenz, die in den Zeitungen in der Regel nicht erwähnt wird: Die Entwicklung an der russisch-chinesischen Grenze. Pjotr sagt, dass wenn die Chinesen genauso vorgehen würden, wie die Russen in der Ukraine, dann würde jetzt ein riesengroßes Gebiet Ostsibiriens durch China besetzt sein, denn dort leben mittlerweile mehr Chinesen als Russen. Das wissen die Chinesen natürlich auch, sie werden dort nicht mit Gewalt einmarschieren, brauchen eigentlich nur zu warten. Und das tun sie und die Isolation Russlands durch den Westen lädt die Chinesen geradezu ein, nach Russland zu kommen. Das heißt: die Chinesen marschieren momentan friedlich in Russland ein. Und wenn die Sprache Ost-Sibiriens dann irgendwann Mandarin ist, werden die Grenzen neu gezogen.

Es ist kurz vor sechs, Pjotr ist mit seinem Mountainbike hier und muss noch rund zehn Kilometer zu seinem Haus. Er muss los, lädt mich ein, mit ihm zu kommen. Ich lehne dankend ab, habe dafür eine Einladung nach Moskau.

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Fortsetzung folgt.
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#1167213 - 25.10.15 08:16 Re: Centroamérica en bicicleta [Re: joeyyy]
joeyyy
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Dienstag und Mittwoch, 24./25.2.2015: Von der Laguna Arenal über La Fortuna nach Chilamate oder: Warum Frau Haderthauer in Costa Rica noch Ministerin wäre


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Die Kaffeegeschäfte laufen nicht so gut für Costa Rica, erzählt mir Jorge beim gemeinsamen Frühstück in seinem Café. Die Chinesen, die immer größere Teile des Weltmarkts mitbestimmen, wollen italienischen Kaffee von Illy. Illy kauft den Kaffee in Costa Rica und lässt ihn sogar teilweise hier rösten, weil es billiger ist als in Italien. Dann wird der Kaffee nach Italien verschifft und von dort nach China verkauft und weitertransportiert. Wer die Marke hat, hat den Markt. Die Wertschöpfung findet natürlich in Italien statt und nicht in Costa Rica. Mit den Bananen und dem Zucker ist es das Gleiche.

Die Kaffee-Röst-Saison ist jetzt vorbei, Jorges Rösterei ist gerade vollkommen gesäubert. Um überhaupt Kaffee exportieren zu können, muss er schon sehr gut sein. Und aus dem Export erlösen die Röstereien natürlich wesentlich mehr Geld als aus dem Verkauf im eigenen Land. Das erklärt, warum es in Zentralamerika zwar sehr guten Kaffee gibt, aber nicht zu kaufen und nicht zu trinken. Hier, in seinem Café bietet Jorge allerdings seinen eigenen, guten Export-Kaffee an und der ist lecker. Ansonsten trinkt man hier gerne den Instant-Kaffee von Nestlé. Das ist so als würden wir in Deutschland das beste Bier der Welt brauen und exportieren und selber nur irgend eine holländische Plürre trinken. (Anmerkung: Ich mag Holland und die Holländer/innen. Nur in Punkto Fußball und Bier haben wir unterschiedliche Auffassungen, was in guten Disputen durchaus spannend ist.)

Das nächste Frühstücksthema ist mal wieder die Korruption. In Costa Rica sind Politiker offensichtlich auch gerne mal Unternehmer. Dann folgt die Politik natürlich den persönlichen Interessen der Unternehmer. Nicht, dass das in Deutschland nicht ähnlich funktionieren würde – wir verstecken das manchmal nur ein wenig besser. In den letzten Jahren wollte die Politik der Ticos eine Eisenbahn bauen – die Netze existieren ja sogar teilweise noch aus den Zeiten, in denen die Amerikaner hier das Sagen hatten. Ein Präsidentschaftskandidat besaß ein Transportunternehmen mit vielen Lastwagen. Als er Präsident wurde, wurde das Eisenbahnprojekt gestoppt – aus Kostengründen. Fragt sich nur, was damit wirklich gemeint war. Ich schildere das Wachstumsbeschleunigungsgesetz in Deutschland, mit dem unsere FDP ganz offen die Anforderungen der Hotel-Lobby sogar in ein Gesetz eingebracht hat. Jorge fragt mich, was daran fragwürdig wäre, was ich wiederum fragwürdig finde. Ich schildere die Modellauto-Affäre, bei der die bayerische Arbeitsministerin Haderthauer als Chefin ihres Mannes mit diesem zusammen von psychisch kranken Strafgefangenen in staatlichen Einrichtungen hat Modellautos zusammenbauen lassen und damit viel Geld verdienen konnte. Jorge sagt, dass diese Frau hier in Costa Rica nicht auffallen und weiter im Amt sein würde. Schließlich würde ihr Mann doch die Geschäfte machen.

Die Menschen in Costa Rica scheinen noch politikverdrossener zu sein als wir. Wir sind uns einig, dass Mark Twain am Ende richtig lag: “Wenn Wählen etwas verändern würden, würden sie es uns nicht tun lassen.”

Am Lago Arenal entlang fahre ich im Regen. Schöner Regen. Er ist warm und weich. Ich spare mir die Regenklamotten, weil ich darin sowieso nur schwitzen und nass werden würde. Mein Merinotrikot spielt seine Vorteile aus: Es ist zwar nass, aber ich spüre das gar nicht so. Mein Temperaturempfinden ist genau so wie es sein sollte.

Am Ende des Sees merke ich, dass ich trotz der Wolken einen Sonnenbrand an den Armen habe, da ich aufgrund des Wetters darauf verzichtet habe, mich einzucremen. Driss. Das hole ich dann schnell nach.

Und endlich sehe ich die German Bakery, an deren Werbeschildern ich schon den kompletten Weg entlang des Sees vorbeifahre. Draußen steht ein leerer Bus, drinnen stehen und sitzen schwäbisch schwätzende ältere Herrschaften, die mit dem jungen Bäcker plaudern und froh sind, hier auf einen Landsmann zu treffen und endlich mal wieder vernünftiges Brot essen zu können: “Die Oig’borene könnet desch ja au net!”

Costa Rica als Land ist sehr schön und wesentlich sauberer, als seine Nachbarstaaten. Aber irgendwie werde ich mit diesem Land nicht warm. Es ist schweineteuer hier (mindestens Faktor vier zu den anderen Staaten, teurer als Hannover), laut und voller Touristen. Die eigentlichen Ticos habe ich hier noch nicht gesehen, es ist am Ende fast wie auf Mallorca.

Ich schiebe dieses Gefühl mal auf meinen Frust, den ich auch durch Wetter und Landschaftsprofil habe: Hier, in den Bergen, gibt es fast nur Wind oder Regen oder beides. Die letzten beiden Tage waren extrem anstrengend.

Mal sehen, wie es wird, wenn ich aus den Bergen in der Ebene bin.

Die Nacht verbringe ich in La Fortuna in einem der vielen Chill Out Backpacker Inns. Der Blick aus meinem Zimmerfenster auf den Vulkan Arenal ist großartig und das Spiel des Windes mit den Wolken ändert die Stimmung des Ausblicks minütlich.

Aus La Fortuna heraus ist ausnahmsweise mal Genussradeln angesagt. Die erste Radstunde rollere ich mit einem 20er Schnitt und ohne Wind durch die Gegend. Ich fantasiere von einer Tagesetappe, die mal wieder dreistellige Kilometerzahlen hat.

Bis Vara Blanca bleibt es herrlich flach und auch das Wetter hat sich wunderbar entwickelt, es ist wolkenfrei, ich kann rückblickend den Vulkan Arenal mal in ganzer Pracht bestaunen.

Die Gegend, durch die ich jetzt fahre, ist touristisch nicht erschlossen, dafür gibt es hier Obstplantagen und obstverarbeitende Industrie. Und das bedeutet leider auch eine ganze Menge großer Laster. Ich muss jetzt häufig bergauf fahren, die Straße ist relativ eng, zwei von diesen fetten Lastern passen gerade so nebeneinander. Das heißt: wenn sich zwei Laster begegnen, ist für mich kein Platz mehr.

Und jetzt muss ich einfach mal vulgär werden. Diese Lastwagenfahrer aus Zentralamerika bremsen vor jeder Bremsschwelle, weichen jedem Schlagloch aus. Und davon gibt es hier sehr viele. Das tun sie hauptsächlich, um ihre marode Technik zu schonen. Aber ein Radfahrer auf der Straße interessiert sie nicht die Bohne. Wenn sie merken, dass es eng wird, hupen sie höchstens einmal kurz. Ansonsten wird mit einem Abstand von zwei bis drei Zentimetern überholt. Ihnen ist scheißegal, ob ich dabei in den Graben fahre oder unter ihre Räder komme oder heil bleibe. Diesen Wixxern sind ihre Scheiß-Stoßdämpfer oder irgendwelche Drecksreifen wichtiger als ein Menschenleben.

Jeder, der mich trifft und meine Geschichte hört, fragt mich, ob ich es nicht gefährlich finden würde, hier in Zentralamerika. Gemeint sind damit immer die Raubüberfälle, Erpressungen und Körperverletzungen. Ich werde immer wieder gefragt, ob ich Angst hätte. Meine Antwort lautet dann immer: “Lo que es peligrosa no es la calle pero la carretera.” Das ist ein Wortspiel und bedeutet frei übersetzt, dass für mich nicht “die Straße” innerhalb der Städte gefährlich ist, sondern die Straßen außerhalb der Städte.

Entlang einer ruhigeren Straße finde ich ein Hostal, in dessen Garten ich direkt am Fluss zelten darf. Es wird von einem Russen betrieben, der einen lustigen Hund hat. Er bietet in seinem Hostal auch Rafting-Touren und sonstige Exkursionen an und fragt mich, ob ich ein paar Ideen hätte, wie er sein Geschäft ankurbeln könnte. Ich schlage vor, entweder das Zeltenlassen im Garten ganz zu verbieten oder daraus auch ein Geschäft zu machen.

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#1167528 - 26.10.15 22:34 Re: Centroamérica en bicicleta [Re: joeyyy]
joeyyy
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Donnerstag, 26.2.2015: Von Chilamate zu Luís nach Westfalia am Atlantik

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Am Anfang genussradel ich durch die Gegend, was aber nach rund 20 Kilometern wieder in Anstrengung mündet. Mein Ziel ist Puerto Limon und dann die Küstenstraße runter nach Panama. Doch um nach Puerto Limon zu kommen, muss ich rund 100 Kilometer über eine der Hauptverbindungsstraßen zwischen San Jose und dem wichtigsten Handelshafen des Landes fahren. Und da ist die Hölle los. Da werden von den Tico-Lastwagenfahrern keine Gefangenen gemacht. Ein Einheimischer, mit dem ich in La Fortuna über meine Reiseroute sprach, sagte mir, dass auf der Strecke regelmäßig Radfahrer überfahren würden, da die Carretera eng und uneinsehbar sei.

Mir bricht kein Zacken aus der Krone, wenn ich also nochmal 100 Kilometer mit einem Bus fahre. Als ich mittags auf die Carretera 32 treffe, befindet sich genau an der Kreuzung eine größere Busstation. Der nächste Bus nach Puerto Limon fährt in einer halben Stunde. Das ist ein wirklich großer Bus. Mein Fahrrad kann ich aufrecht in den Gepäckraum stellen und ich selbst nehme in einem Luxussessel platz. Aus meinen Erfahrungen in Mexico habe ich gelernt und nehme meine Fleecejacke mit ins Businnere. Die Klimaanlage läuft auf Hochtouren und kühlt die Luft soweit runter, dass selbst ich anfange zu frösteln.

Aus dem Fenster des Busses schauend bin ich froh, die Entscheidung so getroffen zu haben. Die Straße ist voller Laster, die sich sogar überholen, ohne dass die Fahrer wirklich sehen können, ob Gegenverkehr kommt oder nicht. Was geht bloß in den Köpfen dieser Fahrer vor?

Knapp zwei Stunden später sitze ich in Puerto Limon wieder auf dem Rad. Diese Stadt gilt als “Hotspot” für Diebe und Räuber und wirkt nicht gerade einladend auf mich. Ich sehe zu, dass ich schnell zum Meer und dann auf die Straße Richtung Süden komme.

Der Atlantik ist hier weniger spektakulär wie der Pazifik. Karibik eben. Es läuft jetzt. Ich meine, es rollt. Gegen fünf halte ich an einem Restaurant an und kaufe mir eine kalte Cola. Es ist idyllisch und ich frage den Besitzer des Restaurants, ob ich hier zelten dürfe. Claro que sí!

Bei einem leckeren Fisch und einer kalten Cerveza Imperial kommen wir später ins Gespräch.

Ach, wie schön ist Panama. Dabei bin ich ja noch in Costa Rica. Vielleicht will dieses Land es sich mit mir ja doch noch versüßen.

Das Gespräch mit Luís dreht sich um Familie und Kinder. Luís ist knappe 60, geschieden und hat insgesamt sechs Kinder, von denen die meisten schon wieder verheiratet sind. Er empfindet sein Leben ohne Frau wesentlich einfacher als mit Frau. Die Tatsache, dass er Kinder hat, lässt ihn in der Art glücklich sein, die nur eine eigene Familie ermöglicht.

Ich kann das so gut nachempfinden. Seit ich geschieden bin, habe ich ein wesentlich intensiveres Verhältnis zu meinen Kindern und empfinde jetzt mehr familiäre Bindung zu ihnen als in der Zeit meiner Ehe. Auch meine Kinder sind nun – wie die von Luís – erwachsen und werden irgendwann vielleicht mal selbst Kinder bekommen. Insofern kann ich mit zeitlich fernem Abstand und dadurch einer relativ gelassenen emotionalen Stimmung zurückblicken und das so für mich werten.

Zelten am Meer ist wunderbar. Ich liebe das Rauschen der Wellen, wenn ich dabei einschlafen kann. Es hat etwas archaisches, etwas berührend wohliges, etwas Geborgenheit gebendes. Ich bin glücklich.

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Fortsetzung folgt.

Geändert von joeyyy (26.10.15 22:44)
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#1170547 - 09.11.15 22:42 Re: Centroamérica en bicicleta [Re: joeyyy]
joeyyy
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Freitag, 27.2.2015: Von Westfalia nach Manzanillo oder warum man sich selbst nur selten findet, Langusten hingegen öfter

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Genussradeln ist angesagt, am Atlantik entlang, 70 Kilometer in gut drei Stunden. Läuft!

Am Ende Costa Ricas sammeln sich die Esoterikerinnen Nordamerikas, in einer Sackgasse, an deren Ende ein kleiner Ort namens Manzanillo liegt. Hier gibt es Wellness-Oasen, Tantra-Tempel und Wiedergeburtshebammen – ich fahre dran vorbei und schüttel nur den Kopf. Und was fällt mir auf? Die Häuser dieser Leute sind wahre Prachtbauten und die Autos, die davor parken sind durchaus groß und luxuriös. Wenn es keinen Markt für diese Dienstleistungen gäbe, gäbe es hier nicht ein so großes Angebot. Selbstfindung ist seit Jahren ein Renner. Komisch ist nur, dass die Menschen offensichtlich erstmal andere Menschen suchen und an andere Orte fahren wollen, um sich selbst zu finden. Ich persönlich könnte das wahrscheinlich in meiner Küche eher als an einem fremden Ort in einem fremden Raum, in dem sich Klangschalenklänge durch Räucherstäbchenluft kämpfen.

Ich stelle mir die Frage, wie das eigentlich gehen soll: Sich selbst finden. Ich meine: Wenn man tagtäglich mit sich selbst zusammen ist, dann hat man sich doch. Was soll ich da noch finden können? Die Voraussetzung für das Finden ist eine Suche. Und eine Suche ist zielgerichtet. Nach etwas, das man braucht, das man vielleicht verloren hat. Aber Voraussetzung für eine Suche ist eine Vorstellung von dem zu findenden.

Klar, nach dem Serendipitätsprinzip kann ich auch durchaus Brauchbares finden, obwohl ich gar nicht danach gesucht habe. Oder ich finde etwas, obwohl ich überhaupt gar nicht suche. Das Surfen im Internet ist ein gutes Beispiel dafür. Aber je größer das Chaos ist, in dem ich nach etwas Bestimmtem suche oder in dem ich etwas finden kann, das mir nützt, obwohl ich nicht danach suche, umso unwahrscheinlicher greift das genannte Prinzip. Und wenn Selbstfindung ein Umhermäandern im eigenen Chaos ist, bei dem eigentlich nicht gewusst wird, was gesucht wird, aber auf das Serendipitätsprinzip gebaut wird, dann schmeißen hier ziemlich viele Leute ziemlich viel Geld aus dem Fenster.

In dem Hostal, in dem ich mich einmiete, treffe ich – auf der Treppe mit den Packtaschen in der Hand stehend – Cliff, einen weißhaarigen Amerikaner, der mich gleich einnordet. Wir werden alle nuklear, biologisch und chemisch bestäubt. Die weißen Streifen am Himmel sind der Beweis! Henry Kissinger schrieb schon in den Siebzigern ein Weißbuch, in dem er plante, die Menschheit auszulöschen und einen Weltstaat nach US-Vorbild zu errichten. Und die weißen Streifen zeigen, dass das jetzt in die Tat umgesetzt wird.

Ich schaue ihn fragend an und sage auf spanisch, dass ich ihn nicht verstehe und dass ich jetzt erstmal meine Packtaschen in mein Zimmer bringen möchte. Er drückt mir eine Fotokopie diverser Zeitungsartikel in die Hand und sagt, ich solle mir das durchlesen und dann morgen nochmal mit ihm diskutieren.

Kann eigentlich ein ganzes Land unter Borderline leiden?

Aitor aus Spanien spricht mich an und klärt mich über Cliff auf. Wobei er mich nicht groß aufklären muss – mein erster Eindruck deckt sich mit den Schilderungen des Spaniers. Aitor ist aber eigentlich gar kein Spanier, sondern Baske. Er ist Maler und Bildhauer, hat eine deutsche Mutter und wir unterhalten uns auf deutsch. Von ihm kann ich mir Flossen, Taucherbrille und Schnorchel leihen und endlich mal – wie vor Jahren mit Lennart auf Kuba – in der Karibik schnorcheln. Aitor selbst will mit einer Harpune unser Abendessen schießen. Ich bin gespannt.

Dieses Gefühl der Schwerelosigkeit in körperwarmem Salzwasser, gepaart mit dem Unterwasserwellenrauschen in den Ohren, präge ich mir ein. Ich möchte es immer wieder abrufen können, wenn ich abends im Bett liege, mein Buch zur Seite gelegt habe und mich der Müdigkeit hingebe. Dann will ich genau so in den Schlaf schweben, wie ich jetzt hier zwischen den Riffen der Karibik schwebe.

Ich kaufe Bier und Wein für’s Abendessen. Aitor hat zwei Langusten und einen Fisch geschossen, die er in der Küche des Hostals kocht. Das ganze Haus riecht nach dem leckeren Essen und die Inhaber sind ein wenig sauer, weil sie selbt ebenfalls Essen kochen, was sie dann allerdings verkaufen wollen. Und alle anderen Gäste fragen, ob sie auch Langustensuppe essen können.

Nein, Aitor und ich verneinen, schließlich hat der Baske die Tiere selbst gesucht, gefunden, erbeutet und nun mitgebracht. Im Gegensatz zu den Selbstsuchern in der Nachbarschaft wusste Aitor, nach was er suchte und nahm die zum Finden und Erbeuten notwendige Ausrüstung mit. Langusten sind offensichtlich leichter zu erbeuten als das Selbst. Das bestätigt auch Aitor.

Er wohnt schon seit einigen Wochen hier und will auch noch ein Weilchen bleiben. Seine Kunst wirft nicht allzu viel ab heutzutage, früher verdiente er mehr, als er noch Aufträge aus der Industrie und von den Banken hatte. Seit der Wirtschaftskrise hat das Kostenbewusstsein in Spanien das Kulturbewusstsein verdrängt und so hat Aitor kein festes Zuhause mehr. In Europa hat er ein Wohnmobil, mit dem er in den warmen Jahreszeiten in Frankreich und Spanien umhertourt.

Wir reden über die Arten zu leben, über die Vorteile des einen und die Nachteile des anderen. Allzu lange müssen wir gar nicht reden, da wir uns nicht viel Neues erzählen. Aber in einem Punkt sind wir unterschiedlicher Auffassung: Während Aitor ein Leben mit Frau und ohne Kinder als sinnstiftend ansehen kann, ist es bei mir genau andersherum: Mein Leben ohne Frau kann für mich durchaus erfüllend sein, mein Leben ohne Kinder nicht.

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Fortsetzung folgt.

Gruß

Jörg.
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#1170793 - 11.11.15 06:48 Re: Centroamérica en bicicleta [Re: joeyyy]
Juergen
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In Antwort auf: joeyyy
Selbstfindung ist seit Jahren ein Renner. Komisch ist nur, dass die Menschen offensichtlich erstmal andere Menschen suchen und an andere Orte fahren wollen, um sich selbst zu finden. Ich persönlich könnte das wahrscheinlich in meiner Küche eher als an einem fremden Ort in einem fremden Raum, in dem sich Klangschalenklänge durch Räucherstäbchenluft kämpfen.
Hallo Jörg,
ich musste grinsen, als ich das las und könnte ergänzen, dass es auf der Suche zu sich selbst notwendig ist, sich fallen zu lassen. Doch wer lässt sich schon gerne fallen? grins
Deine Sicht der Dinge erscheint mir ein wenig zu pauschal. In meinem Leben habe ich viele Menschen getroffen, die auch auf der Suche waren. Einige Freundschaften halten dauerhaft. Dabei war es durchaus hilfreich, die eigene Küche zu verlassen. zwinker
Das mach ich heute immer noch, tausche dabei aber Seminarhaus und Matratzenlager gegen Fahrrad und Zelt. lach

Ich habe den Eindruck, dass dir CR so überhaupt nicht gefallen hat und finde es schade, denn ich habe das Land zu einer anderen Zeit ganz anders kennen gelernt, war aber nur an der Westküste und im Innland mit dem Auto unterwegs.

Lieben Gruß
Jürgen
° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° °
Reisen +

Geändert von Juergen (11.11.15 06:49)
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#1170969 - 12.11.15 07:13 Re: Centroamérica en bicicleta [Re: Juergen]
joeyyy
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... es stimmt, ich habe meine Eindrücke etwas überzeichnet wiedergegeben. Ich musste so häufig an Loriot denken, als ich diese kurze Sackstraße erst rein und dann wieder raus fuhr.

Und ich selbst kann auch nicht leugnen, dass ich hin und wieder unzufrieden mit mir oder meinem Umfeld bin und dann rangehe, meine Einstellung zur Situation zu ändern. Man kann das auch mit einer gewissen Suche nach sich selbst gleichsetzen. Insofern habe ich diesen Abschnitt mit einem Augenzwinkern geschrieben.

Aber rein logisch ist es eben schwierig, sich selbst zu suchen und sich somit zu finden. Wer sich mit dem Begriff des Selbst und seiner Identität über den Zeitverlauf wirklich auseinander setzt, kann vielleicht nochmal aus einem anderen Winkel auf diesen Prozess schauen. Reine Esoterik halte ich in diesem Zusammenhang für problematisch. Da werden Prozesse, Methoden und Gurus angeboten, die zwar in viele Richtungen führen, aber nur in den seltensten Fällen zum eigenen Selbst. Psychologie halte ich allerdings auch für problematisch. Aber darüber möchte ich keine schriftliche Diskussion anzetteln, ich werde das mal auf einer meiner nächsten Reisen für mich klar ziehen.

CR mag mich in der Tat nicht und ich mag es im Ganzen auch nicht. Ausnahmen mal außen vor gelassen, fühlte ich mich immer als Tourist, der abgezockt wird. Die Infrastruktur ist auf Touristen mit Auto oder Jeep oder Bus (oder auf Obstanbau und -transport) ausgelegt, es ist teurer als in Europa und die Menschen in den Touri-Orten sind im wesentlichen unfreundlich. Wenn man denn Länder sympathisch oder unsympathisch finden kann, dann steht CR bei mir ganz hinten auf der Sympathie Liste. Selbst in so problematischen Ländern wie Guatemala oder El Salvador fühlte ich mich wohler. Und selbst in Honduras waren die Menschen offener und ehrlicher zu mir.

Vielleicht würde eine Treckingtour durchs Landesinnere wieder einiges gerade rücken. Aber meine Pläne gehen in andere Richtungen. Insofern wird Costa Rica für mich eine einzigartige Episode bleiben.

Geändert von joeyyy (12.11.15 07:19)
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#1172238 - 19.11.15 08:09 Re: Centroamérica en bicicleta [Re: joeyyy]
joeyyy
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Samstag/Sonntag, 28.2./1.3.2015 – Ruhetag in Manzanillo/Costa Rica und dann nach Changuinola/Panama: Endlich wieder raus hier!

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Eigentlich will ich losfahren. Es ist jetzt kurz nach neun und es regnet in Strömen. Ich hatte gestern abend meine Sachen gewaschen und aufgehängt. Die sind jetzt nass. Ich habe schon schlecht geschlafen, weil die fetten Regentropfen auf dem Blechdach mein Schlafzimmer zum Inneren einer Trommel gemacht haben. Aber gerade hört es auf zu regnen, es weht ein lauer Wind und die Sonne zeigt sich hin und wieder mal. Ich hoffe, dass der Tag doch noch schön wird. Wird er, aber erst ab 12 Uhr mittags.

Die Kindle-App auf meinem iPad bietet noch viel spannenden Lesestoff, es gibt zugegebenermaßen nicht viele schönere Orte auf der Welt, um lesend in einer Hängematte einen Ruhetag zu verbringen als ein Karibik-Strand in Costa Rica und einen Ruhetag kann ich gut gebrauchen. Außerdem können meine Sachen trocknen und mittags losfahren lohnt sich doch nicht. Wieso brauche ich eigentlich so komische Ausreden, um einfach nur hier noch einen Tag zu chillen?

Am nächsten Morgen regnet es wieder. Die Inuit haben zwölf Worte für Schnee. Die Maya haben garantiert mindestens zwanzig für Regen.

Es ist halb zehn und ich warte auf eine Regenpause, die nicht kommt. Um zehn fahre ich los. Im Regen in den Regen. Viel zu warm für Regensachen, es ist irgendwie schön, in normalen Radklamotten im Regen zu fahren.

Nach rund 50 Kilometern bin ich an der Grenze zu Panama. Eine alte Eisenbahnbrücke führt über den Grenzfluss, Autos können hier überhaupt nicht rüber.

Die beiden costaricanischen Grenzbeamten geben mir den Rest, was meine Einstellung zu diesem seltsamen Land angeht. Sie sitzen absolut gelangweilt in ihrem Büro und glotzen auf ihre Mobiltelefone. Einer sagt, ich müsse Grenzsteuer zahlen, aber nicht hier.

Ich müsse die Steuer an einem Automat zahlen und dann wieder zurück kommen. Ich bin verdutzt, habe ich doch ausreichend Kleingeld bei mir und das sogar passend. Nein, das ginge nicht, ich müsse an den Automaten. Ich versuche mein Glück. Meine Mastercard wird nicht akzeptiert und der Schlitz für das Bargeld funktioniert nicht. Ich bitte die beiden Beamten, mein Bargeld zu akzeptieren. Keine Reaktion. Ich werde sauer, in einer halben Stunde werden die diesen Posten hier dicht machen und dann müsste ich bis morgen auf meinen Stempel im Pass warten. Ziemlich forsch und deutlich sage ich, dass dieser dämliche Automat nicht funktioniere. Die beiden Typen hinter dem Glasschalter ignorieren mich und starren weiterhin auf ihre Telefone. Eine Frau, die den Grenzposten betritt, sagt, dass ich die Steuer auch in der Apotheke gegenüber bezahlen könnte. Ich kapiere nix mehr, bin ungläubig und schaue gestresst auf die Uhr an der Wand. Aber was bleibt mir übrig? Ich packe meine Dokumente zusammen und schiebe mein Rad vor die Apotheke.

Drinnen frage ich die Frau hinter dem Tresen, wo ich denn hier die Ausreisesteuer zahlen könnte. Sie zeigt auf einen Automaten, ich kriege die Krise und erzähle von meinem Erlebnis mit dem ersten Automaten im Grenzposten. Sie lächelt mich an, kommt zum Automaten und bittet mich um das nötige Bargeld. Das gebe ich ihr, sie drückt ein paar Knöpfe, schiebt die Dollarnoten in den Schlitz und gibt mir eine Quittung. Die solle ich nun dem Grenzposten vorzeigen und dann würde ich die Stempel kriegen.

Die beiden Typen von vorhin streiten sich nun mit der Frau aus Panama, die vorhin reinkam – ich weiß nicht, warum. Sie ist wütend und geht raus. Ich zeige den Beamten nun ohne ein Wort und mit böser Mine meinen Reisepass und die Quittung aus der Apotheke. Einer schaut gelangweilt auf die Quittung, klatscht auf irgendeine Seite meines Passes den Costa-Rica-Stempel und schiebt mir den Pass wieder zu. Tschüss Costa Rica, tschüß Ticos, auf Nimmerwiedersehen!

Die ehemalige Eisenbahn- und jetzige Fußgängerbrücke ist abenteuerlich, ich schiebe mein Rad lieber rüber. Vorher will noch ein Polizist meinen Reisepass sehen und den Stempel seiner Kumpel inspizieren. Ohne den wäre ich wohl nicht rausgekommen, aus diesem Abzockerland. CR verlässt mich, wie es mir begegnet war: Missmutig, mit Wind, mit Regen.

Panama empfängt mich zwar mit dem gleichen Wind und Regen, aber die Strecke ist wunderbar: Auf einer stillgelegten Eisenbahnstrecke geht es durch Wälder und Felder. Als ich eine Brücke über den Rio San San überquere, sehe ich einen alten Bus auf einem Floß mitten im überquerten Fluss ankern. Hinter der Brücke ist irgend ein Informationszentrum, ich fahre in die Einfahrt und frage einen Mann, der das Gebäude gerade absperrt, ob ich hier am Fluss zelten dürfe. Nein, das ginge nicht, sagt er – allerdings mit offener und freundlicher Mine. Er sei hier nur der Verwalter und könne das gar nicht entscheiden. Ich frage, was das hier denn sei. Ich erfahre, dass ich in einem Informations- und Koordinationszentrum für die Renaturierung dieser Gegend und die Hege und Pflege von Meeresschildkröten gelandet bin. Interessiert frage ich, warum denn hier renaturiert werden müsse.

Der Mann freut sich über das Gespräch und erklärt mir, dass für die Bananen-Plantagen viel Land geopfert werden musste und dass der Regenwald bis zum Atlantik gerodet wurde. Das führte dazu, dass die Meeresschildkröten, die hier Jahr für Jahr herkamen, um zu laichen, ausblieben, da sie keine Ruhe zum Laichen hatten.

Vor ungefähr fünfzehn Jahren haben Umwelt- und Tierschutzorganisationen Geld gesammelt, den Bananen-Baronen einen breiten Landgürtel entlang des Flusses bis zum Ozean abgekauft und jetzt ist man dabei, diese Gegend zu renaturieren. Das heißt: Bäume und Büsche anzupflanzen, die es hier schon lange nicht mehr gab. Und mittlerweile kommen auch die ersten Schildkröten wieder, um am Strand – dort, wo der San San in den Ozean fließt – zu laichen.

Die Brut wird – auch nachts – von Freiwilligen und Angestellten des Vereins bewacht, um möglichst viele kleine Schildkröten sicher ins Meer zu begleiten, wo sie noch genügend Fressfeinde erwarten.

In der Zwischenzeit hat sich noch die Frau des Verwalters zu uns gesellt. Ich frage nochmal höflich, ob ich hier nicht übernachten dürfe – ich würde morgen früh auch ganz früh wieder wegfahren. Die beiden schauen sich an und nicken mir zu. Sie lassen sogar die Toilettenanlage geöffnet, damit ich fließendes Wasser habe. Ich spende zehn Dollar für den Verein und freue mich über dieses tolle Nachtlager. Meine Dusche ist eine gefüllte Einliter-Alu-Wasserflasche, die ich am Wasserhahn wieder nachfüllen kann. Ich bin sehr zufrieden, baue mein Zelt unter ein Pavillondach direkt am Fluss und werde von Grillen und Fröschen in den Schlaf gesungen.

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Gruß

Jörg.
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#1174086 - 29.11.15 18:40 Re: Centroamérica en bicicleta [Re: joeyyy]
joeyyy
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Montag, 2.3.2015: Von Changuinola bis Pueblo Nuevo, Dienstag, 3.3.2015: Von Pueblo Nuevo bis irgendwo in den Bergen, Mittwoch, 4.3.2015: Von in den Bergen weiter in den Bergen zur Lost and Found Lodge und Donnerstag, 5.3.2015: Ruhetag im Regenwald. Oder: Was man gar nicht tun muss, um sich reich zu fühlen.


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Fortsetzung folgt.

Gruß

Jörg.
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#1174472 - 01.12.15 07:13 Re: Centroamérica en bicicleta [Re: joeyyy]
joeyyy
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Freitag, 6.3.2015: Von der Lost and Found Lodge nach San Felix an der Panamericana. Oder: Warum man alt nicht mehr jung ist.

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Ich bezahle meine Rechnung, 80 US-Dollar. Wow – ich bin blank. Rotwein im Dschungel ist eben teuer. Geldautomaten sind im Dschungel ebenfalls Mangelware, also muss Frank mir 20 Dollar leihen, mir selbst bleiben noch sechs. Ich habe ungern Schulden. Es soll Leute geben, die leben vom Schuldenmachen – leihen sich Geld für einen niedrigen Zinssatz, lassen das Geld für sich arbeiten, kassieren einen hohen Zinssatz, geben das geliehene Geld wieder zurück und leben von den mehr erhaltenen als gezahlten Zinsen. Leverage-Effekt nennt man das in der Betriebswirtschaftslehre. Obwohl ich das mal studiert habe und ich auch wüsste, wie ich so Geld verdienen könnte, kann ich das nicht. Will ich das nicht. Das ist nicht mein Naturell. Ich will niemandem etwas schulden. Schulden machen erpressbar. Erpressbar zu sein heißt, unfrei zu sein. Unfrei im Kopf, unfrei in den Handlungen. Und wenn dann die Theorie in der Praxis nicht greift, wird es problematisch. Je nachdem, von wem man sich Geld geliehen hat, hat man sich verkauft. Mephisto lässt grüßen und bestimmt den Grad der Prostitution des Faust. Und die Staaten dieser Erde machen das Schuldenmachen im Moment mit ihrer Niedrigzinspolitik so attraktiv wie nie. “Investitionsanschub” nennen die das dann. Nein, danke, ich nicht. Selbst die zwanzig Dollar, die ich Frank jetzt schulde, lassen in mir solche Gedanken entstehen.

Der Weg runter von der Lodge zur Straße ist steil, die Abfahrt in die Pazifikebene rasant, mein Tacho zeigt 76 km/h als Maximalgeschwindigkeit. Das ist nicht so viel, aber die Windböen sind unberechenbar.

Mit den abnehmenden Höhenmetern nehmen die Celsiusgrade auf dem Thermometer zu. In der Karibik regnet es häufig, hier selten. In David biegen Frank und ich links ab, auf die Panamericana, Richtung Panama City.

Die Autobahn ist einseitig gesperrt, der Verkehr fließt über zwei Fahrspuren, es ist extrem eng. Das hier ist eine Riesenbaustelle, eng, laut, staubig. Da macht Fahrradfahren nicht nur keinen Spaß, es ist auch sehr gefährlich. An einem Kiosk beschließen wir, die nächsten 30 Kilometer bis San Felix mit einem Pickup-Taxi zu überbrücken und dann den Rest nach Panama City mit dem Bus zu fahren. Wir hätten zwar noch die Zeit, dorthin zu radeln, aber warum sollen wir uns hier quälen, wenn wir in der Stadt Kultur und Zivilisation erleben können. Außerdem wollen wir die eingesparte Zeit nutzen, um dann am Kanal entlang vom Pazifik zum Atlantik und wieder zurück zu fahren.

In San Felix, an der Bushaltestelle, treffen wir Andy, einen Reiseradler aus Neuseeland. Andy radelt durch die Welt und ist halt gerade hier. In seiner Heimat arbeitet er immer so lange in einer Fabrik, bis er genügend Geld für ein Jahr Auszeit plus Rückflug hat, dann reist er so lange durch die Welt, bis das Geld alle ist und fliegt wieder zurück nach Neuseeland.

Frank, Andy und ich beschließen, hier in einem Hotel abzusteigen und es uns mal so richtig gut gehen zu lassen. Wir fahren Richtung Strand und fragen in einem Hotel, das von einem Berliner betrieben wird, nach Zimmern. Ich rede auf deutsch mit dem Besitzer und bekomme einen guten Preis. Voraussetzung: Wir müssen uns zu dritt ein Zimmer teilen. Kein Problem. Das Hotel hat einen Mallorca-Tourismus-Standard, also Luxus pur für uns.

Nachdem wir geduscht haben, springen wir in den hoteleigenen Swimmingpool, holen uns ein paar Flaschen Bier und lassen es uns im Wasser gut gehen. Wir verabreden ein kleines Spielchen: Wenn die Flaschen leer sind, muss derjenige neues Bier holen, der am kürzesten unter Wasser bleiben kann. Na ja, ich habe zwar die größten Lungen, bin aber am wenigsten alkoholfest. Ich mache das ganze nur einmal mit, da ich befürchte, dass irgendwas passieren könnte, das nicht geplant war. Wir wollen uns ja auch nicht abschießen, haben schließlich ein gut klingendes Abendessen gebucht.

Andy ist ein wirklich sympathischer Globetrotter. Frank und ich beneiden und bewundern ihn zugleich. Wie gern wäre ich an seiner Stelle. Dreißig Jahre alt, keine Verpflichtungen, gesund, gut aussehender Kerl mit sympathischer Ausstrahlung, mit dem Fahrrad unterwegs in der Welt. Na gut, wir verabreden, dass wir zwar keine dreißig mehr sind, aber ansonsten durchaus mithalten können. Und Frank will jetzt sogar nach Hause. Er versucht schon seit zwei Tagen, einen früheren Rückflug von Panama City nach Holland zu organisieren. Ich selbst könnte zwar noch ein paar Wochen weiterreisen, aber der Magnet “Zuhause” zieht auch bei mir – mehr als er es früher tat.

Was bedeutet das? Mit fünfzig ist man keine dreißig mehr.

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Gruß

Jörg.
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#1175218 - 05.12.15 09:10 Re: Centroamérica en bicicleta [Re: joeyyy]
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Samstag, 7.3.2015 bis Donnerstag, 12.3.2015 mit dem Transfer von San Felix nach Panama Stadt, Sightcycling, einigen Ruhetagen mit Kultur und Kanal und noch einer Tour vom Pazifik zum Atlantik und zurück. Und dem Ende der Reise.

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Das angekündigte deutsche Frühstück mit Frank und Andy entpuppt sich als Papp-Brot mit Butter und Marmelade, dazu ein hart gekochtes Ei. Der Kaffee ist allerdings sehr gut, die Leute sind freundlich und wir haben uns wohl gefühlt.

Neben uns wohnt ein deutsches Paar, beide Mitte 50, Aussteiger. Beide frisch komplettoberkörpertätowiert, er Schichtarbeiter, sie Friseuse. Ex-Schichtarbeiter, Ex-Friseuse.

Kommen aus München, haben ihr Haus dort für einen hohen sechsstelligen Betrag verkauft und bauen sich jetzt hier in Panama ein neues Haus. Natürlich muss es genauso sein, wie das in München. Man wohnt hier seit vier Monaten in diesem deutschen Hotel, weil der Besitzer halt ein Deutscher ist und auch noch weitere Deutsche da sind. Da kennt man sich dann, man kann unter sich sein. Die beiden braun Gebrannten sitzen in Badehose und Bikini am Pool, rauchen ihre Zigaretten, trinken ihren Kaffee. Die Frau kann schon so viel Spanisch, dass sie einkaufen und im Restaurant bestellen kann, erzählt der Mann. Er lernt dann spanisch, wenn er Zeit hat. Jetzt muss er viel die Hunde ausführen und auf der Baustelle die Arbeiter überwachen. Man will ja schließlich gerade Fliesen haben und die Arbeiter aus Panama können das nicht.

Nach rund zehn Minuten Smalltalk rufen mich meine Fahr-Kameraden und wir fahren zur Bushaltestelle.

Nach zwei kühlen Bierchen am Morgen kommt der Bus, wieder so ein Monster. Andy will mit dem Rad weiter, Frank und ich verstauen unsere Räder im Bus, kurze Verabschiedung, um halb zwölf geht’s Richtung Panama-Stadt.

Im Bus sitze ich neben einer älteren Frau, wir kommen ins Gespräch. Die Panamericana wird auf 200 Kilometer doppelspurig ausgebaut, das ist ein Milliardenprojekt, das von einer kolumbianischen Firma durchgeführt wird. Normalerweise könnten das auch Firmen aus Panama, das haben sie schließlich im Norden und im Süden gezeigt. Aber man munkelt, dass ein Minister aus Panama Teile seiner Familie in Kolumbien hat. Die Korruption ist hoch hier in Panama. Die Wertschöpfung des Bauprojektes fließt nach Kolumbien, von dort kommen die Architekten, Ingenieure und Vorarbeiter. Nur die niederen Tätigkeiten werden zum Teil von Menschen aus Panama durchgeführt.

Fast jeder Politiker hier hat noch eine Firma, die dann plötzlich prosperiert, wenn der Politiker gewählt wird. Meine Nachbarin beneidet Europa wegen der fehlenden Korruption, in ganz Zentralamerika zermürbt sie die Menschen. Auch dieser Frau erkläre ich die europäische Lobbyarbeit mit ihrer subtilen, undurchschaubaren Form von Korruption und erkläre anhand von Beispielen, dass unsere Politiker ebenfalls korrupt sind, es heißt nur nicht so.

Ein ehemaliger deutscher Kanzler arbeitet jetzt für eine russische Pipeline Firma, ein ehemaliger deutscher Umweltminister arbeitet jetzt für eine große Autofirma, für einen ehemaligen Kanzleramtsminister hat die Kanzlerin als Eignerin der deutschen Bahn dort sogar einen eigenen Posten mit Millionenbezügen geschaffen.

Ich kann zwar nicht sagen, dass die Frau beruhigt ist, aber zumindest habe ich Europa ein wenig ent-idealisiert die moralischen Abstände zwischen den beiden Kontinenten etwas verringert.

Frank und ich sind froh, dass wir den Bus nehmen. Der Wind ist heftig, kommt aus Südost, das hieße für uns also: Gegenwind. Bei einer Pause an einer Tankstelle merken wir auch, wie heiß es hier ist. Verbunden mit dem Staub und dem Lärm der Baustelle wäre das Radeln hier eine echte Qual. Ich habe keine Probleme mit dem Selbstquälen beim Radfahren, wenn ich gegen Hitze, Kälte, Sturm, Berge oder Sand ankämpfen muss. Dann pisst mich das zwar auch an, aber ich ziehe es durch. Wenn aber Menschen hinter den Unbilden des radelnden Vorankommens stecken, dann frage ich mich höchstens noch rhetorisch, ob ich mir das antun muss. Und wenn möglich, fahre ich dann eben mit dem Bus oder der Bahn so weit, bis ich wieder mehr Freude am Radeln habe. Das gönne ich mir.

Gegen sechs Uhr nachmittags kommen wir in Ciudad am Busbahnhof an. Ich programmiere den Garmin und wir fahren über mehrspurige Autobahnen vom Busbahnhof in den Stadtteil Casco Viejo. Der Garmin ist hier ein unentbehrlicher Helfer. Panama Ciudad ist beeindruckend. Wir fahren durch ein Reichenviertel, direkt an der Zufahrt zur Brücke der Amerikas, welche die beiden geografischen Kontinente Nord- und Südamerika verbindet. Die Häuser hier sind durch Zäune mit Stacheldraht abgesichert. In Panama gibt es eine breite Oberschicht, die in den Banken, Reedereien und Speditionen arbeitet und rund um das Steuerparadies und den Kanal viel Geld verdient.

In direkter Nachbarschaft liegen dann auch vernachlässigte Häuser, die Menschen sitzen auf den Treppen und der Straße, Polizei und Militär zeigen Präsenz. Die Unterschiede zwischen arm und reich sind deutlich sichtbar.

In einem kleinen Hostel mitten im Altstadtviertel mieten wir uns ein, duschen und schlendern durch die Straßen, um die Gegend ein wenig zu erkunden. Im Lonely Planet stehen ein paar kulinarische Empfehlungen, denen wir folgen. Wir holen uns ein paar Tapas und Bierdosen auf die Faust und setzen uns auf eine Bank eines belebten Platzes. Ab acht Uhr abends wird die Stimmung dann anders. Die Menschen verschwinden so langsam, es bleiben dunkle Gestalten über, denen wir nicht über die Wege trauen. Ein Mann mit verschlissener Kleidung und verwegener Frisur setzt sich direkt vor uns auf die Straße und schaut mir aggressiv in die Augen. Sagt nichts. Keine Gesten, keine Worte. Frank und ich schauen uns an, nehmen unsere Sachen und verschwinden in Richtung Hostel. Auf dem Weg dorthin kommen wir an einem edlen Restaurant vorbei, wo dann die “High Society” eine Party zelebriert. Die Menschen kommen mit ihren teuren Autos vorgefahren, steigen einfach so aus, irgendein junger Mann kommt sofort angelaufen und fährt das Auto dann irgendwo hin, wo es Parkmöglichkeiten gibt. Na, das nenne ich mal Vertrauen. Vor dem Restaurant findet dann das statt, was ich halt so aus den Hollywoodfilmen kenne: Man steht mit Sektchen, Täschchen und Röckchen zusammen, hält Smalltalk und zeigt sich den anderen. Das sind die Parties, die ich nie mochte, die ich während meines Berufslebens immer vermieden habe und weiterhin vermeiden werde.

Die schönste Art, eine Stadt zu besichtigen, ist für mich, sie zu beradeln. Zuhause am Computer hatte ich schon eine 60-Kilometer-Rad-Runde zurechtgelegt und auf den Garmin übertragen. Jetzt fahren Frank und ich sie ab.

Panama Stadt ist groß, interessant und wunderbar per Rad zu erkunden. Allerdings waren die Gegensätze zwischen arm und reich für mich auch in noch keiner Stadt so groß wie hier. Ciudad ist stinkreich. Und dreckig zugleich. Und militarisiert, um die zivile Ordnung aufrecht zu halten.

Downtown und in den Bankenvierteln fallen mir die dicken Menschen in den dicken Autos auf. Während bei uns in Europa diese unnützen und gefährdenden SUV-Protzkisten ja mittlerweile viel Misstrauen, Ärger und Ablehnung hervorrufen, sind sie hier immer noch Statussymbol.

Panama ist auch eine sportliche Stadt. Direkt am Meer entlang führt ein sehr gut ausgebauter Radweg, direkt neben einem breiten Fußweg, der von vielen Joggerinnen und Joggern genutzt wird.

Am Ende dieses Tages sind wir knapp 80 Kilometer gefahren.

Abends gehen wir zum Fischerei-Hafen, um den verheißenen leckeren Fisch zu essen. Na ja. Es ist Sonntagabend, halb Panama hat die gleiche Idee. Rappelvoll ist es hier, jeder Stand hat Megalautsprecher aufgebaut, es ist so laut, dass wir uns nicht unterhalten können.

Das heftigste hier ist aber der Gestank. Sämtliche Fischabfälle werden einfach aus den Fenstern der Küchen geworfen, wo sich Pelikane und Möwen ums Abendmahl streiten. Zwar scheint jetzt nicht mehr die Sonne, aber die Hitze ist auch abends noch da und verstärkt den Geruchsekel nochmal drastisch.

Dennoch essen Frank und ich einen Fisch, der tatsächlich sehr lecker ist, aber danach gehen wir auch schnell wieder in Richtung Hostel.

Die letzten Tage sind halt so Besichtigungstage in einer Großstadt mit Besuchen in Museen, größeren Läden, dem Friseur und empfohlenen und nicht empfohlenen Restaurants. Nichts besonderes.

Am vorletzten Tag radel ich nochmal allein nach Colon, oben am Atlantik, will den Panama-Kanal komplett abfahren. Das ist eine schöne Tour am Stausee vorbei, der die Schleusen mit Wasser versorgt. Als ich unterwegs über eine Brücke über einen Fluss fahre, liegt direkt unter mir ein fettes Krokodil. Einen Taxifahrer, der in der Nähe auf Gäste wartet, frage ich, ob das normal sei und ob es nicht auch mal Unfälle mit den Tieren gäbe. Ja, meint er ziemlich lässig, manchmal kommen halt Angler nachts nicht mehr von ihren Fängen zurück und werden auch nie wieder gesehen. Dann sind sie wohl gefressen worden.

So, und dann bricht auch schon der letzte Tag meiner Reise an. Ich werde etwas melancholisch, Frank freut sich.

Wir schlendern nochmal durch die Stadt, die Hitze ist extrem. Die Menschen arbeiten in dieser Hitze inmitten der Häuserschluchten, restaurieren und renovieren alte Gebäude in Staub und Lärm. Ich kann mir nicht vorstellen, hier zu leben – jeden Tag Hitze.

Wir trinken noch einen leckeren Abschieds-Mojito in einer kubanischen Bar, leider mit Bacardi und nicht mit Havanna-Club. Frank und ich reden über unsere Leben, übers Bergsteigen, wir überlegen, ob wir im August gemeinsam auf den Eiger steigen.

Ich war lange nicht mehr bergsteigen, ist ein schöner Gedanke.

Nach dem Abendessen nehmen wir uns dann ein Taxi zum Flughafen, wo wir auf unseren Isomatten in einem etwas abgeschiedenen Teil einschlafen.

Frank steht schon um vier auf, ich um halb sechs. Wir verabschieden uns herzlich.

Mein Flugzeug fliegt etwas verspätet los, muss ab Santo Domingo eine nördlichere Route nehmen, wir werden also mit rund zwei Stunden Verspätung in Frankfurt ankommen, ich werde meinen reservierten Fahrradplatz nicht bekommen. Und hoffe auf einen freien Platz im Folgezug.

Zeit für ein Resümee, zehntausend Meter über dem Atlantik.

Janosch sagt ja: „Wenn man einen Freund hat, braucht man sich vor nichts zu fürchten.“ Ich habe mit Frank zumindest während der letzten Tage einen Freund gefunden. Das kann ich aufrichtig sagen. Die Zeit mit ihm hat sich für mich gut angefühlt.

Von was kann ich noch resümieren?

Von den fettesten freundlichen Menschen der Welt in Mexiko, den Party-Amis und Möchtegern-Aussteigern an den schönsten Karibikstränden in Belize, einem Kurz-Sprachkurs in Q’eqchi’ und einer tollen jungen Kinderärztin in Guatemala, einem Fußballspiel und der grünen Schildkröte in El Salvador, der Furcht der Menschen vor dem eigenen Land in Honduras, der Hitze und den Vulkanen in Nicaragua, von meiner Abneigung gegenüber Costa Rica sowie von den vielen Gegensätzen und wie schön es ist in Panama.

Und davon, dass man sich wirklich vor nichts fürchten muss, wenn man Freunde finden kann. Und die kann man überall finden. Neugier hilft dabei ungemein.

Was bleibt?

Ich komme garantiert mit vielen bleibenden Eindrücken zurück. Ein anderer Mensch bin ich obgleich nicht. Aber wenn das Leben nicht das ist, was wir erleben sondern das was wir erinnern und das was wir von diesen Erinnerungen erzählen, dann ist mein Leben jetzt wesentlich reicher. Und erzählt habe ich jetzt meine Erinnerungen an diese Reise. Was ja dann mein Leben ist.

Epilog.

Kalt ist es. Saukalt. In Frankfurt am Bahnhof laufen viele Menschen bei rot über die Fußgängerampeln. Hat während der letzten sieben Wochen ein Kulturwandel Deutschland überfallen oder wollen die einfach nur nicht festfrieren?

Die Bahnfahrt mit Rad im Intercity ohne Reservierung funktioniert, ein freundlicher Schaffner hat Verständnis und nimmt mich mit.

Ich freue mich über mein Land. Weil ich hier leben kann, weil ich von hier aus reisen kann und weil ich wieder hierher zurückkehren kann. Auch, wenn ich mich irgendwann wieder über unnötige Verkehrsregeln, sture Schaffner und schamlose Lobbyisten ärgern werde. Ach, das gehört dazu.

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Mehr Bilder gibt es hier (klick)

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Ende.

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Vielen Dank fürs Dabeisein und Kommentieren und Gruß

Jörg.
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#1175229 - 05.12.15 09:52 Re: Centroamérica en bicicleta [Re: joeyyy]
Keine Ahnung
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Beiträge: 12.864
Danke für den tollen Reisebericht!
Gruß, Arnulf

"Ein Leben ohne Radfahren ist möglich, aber sinnlos" (frei nach Loriot)
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#1175418 - 06.12.15 13:05 Re: Centroamérica en bicicleta [Re: joeyyy]
stux
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Beiträge: 75
Hallo Jörg,
bei Deinem Bericht über Guatemala bin ich auf den Thread gestossen, hat mich begeistert, ich war mal als Rucksack-Touri 1992 für einige Monate in Guatemala....
Ich habe dann auch den weiteren Bericht verschlungen, vielen Dank für Deine Schilderungen, die mich sehr berührt haben!
Costa Rica hat mir vor zwei Jahren sehr gut gefallen, wobei ich viele Deiner Einschätzungen nachvollziehen kann!
Sehr schön und vielen Dank, Gerd
immer wieder gern auf Tour
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#1177946 - 19.12.15 15:37 Re: Centroamérica en bicicleta [Re: joeyyy]
joeyyy
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Themenersteller
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Beiträge: 999
Danke für alle Kommentare schmunzel

Die nächste Tour soll nach Asien gehen, da war ich noch nicht. Ich werde wieder berichten.

Gruß

Jörg.

Geändert von joeyyy (19.12.15 15:37)
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